Übrigens …

Die Ratten im Köln, Schauspiel

„Alles morsch, unterminiert von Ungeziefer“

„Die Idee des Dramas“, schreibt Hauptmann 1911, als seine Berliner Tragikomödie uraufgeführt wurde, „bestand aus dem Gegensatz zweier Welten“. Welche Welten? Schauplatz des Stückes ist eine heruntergekommene alte Mietskaserne in Berlin. Das schwangere polnische Dienstmädchen Pauline Piperkarcka will sich im Landwehrkanal ertränken, weil ihr Bräutigam nichts von ihr und dem Kind wissen will. Frau John, deren Sohn kurz nach der Geburt starb, überredet Pauline, das Kind zur Welt zu bringen und es ihr zu überlassen. Ihr Mann, der Maurerpolier John, befindet sich die meiste Zeit auf Montage. Als er von seiner Arbeit in Hamburg zurückkommt, gibt sie das Kind als ihr eigenes aus. Doch dann will Pauline ihr Kind wiederhaben…

Die andere Welt: auf dem Dachboden desselben Hauses hat sich der verkrachte Theaterdirektor Hassenreuter mit seinem Fundus einquartiert. Ab und an erteilt er dort Schauspielunterricht. Und dort trifft sich auch seine Tochter Walburga heimlich mit dem Pastorensohn Erich Spitta, der von einer Schauspielerkarriere träumt.

Hauptmanns Tragikomödie verbindet diese beiden Welten, die bürgerliche Kunst-Welt und die proletarische Welt. Die groteske Scheinwelt des Theaters verbindet sich fast symbiotisch mit der Tragik der verkommenen Proletarier. In beiden klaffen Anspruch und Wirklichkeit immer wieder auseinander. Nach der ausgepfiffenen Uraufführung entwickelten sich Die Ratten zu einem der erfolgreichsten Stücke Hauptmanns.

Karin Henkel inszenierte das Sozialdrama witzig und intelligent in der Expo-Halle, der Ersatzspielstätte des Kölner Schauspiels. Die Bühne (Jens Kilian) ist ein schwarzer, schlichter Kasten, der an eine Obdachlosenunterkunft oder auch an einen Versuchskäfig à la Skinner erinnert. Diverse Klappen in den Wänden ermöglichen schnelle Auftritte und Abgänge. Ein schmaler Steg längs der Rampe grenzt die Spielfläche zum Zuschauerraum ab. Schon das Bühnenbild setzt den Akzent für die Inszenierung: nichts ist real, nichts ist naturalistisch. Alles ist Theater, Hauptmanns Tragikomödie nur Material für die Bühne. Kleiderständer mit diversen Kostümen (wobei es unwichtig zu sein scheint, ob diese in eine bestimmte Zeit passen) stehen an den Seiten. Die Stube der Johns wird bei Bedarf in Form eines fahrbaren Gestells auf die Bühne geschoben und reicht vollständig aus, um den Ort des Dramas vorzustellen. Ein mobiler Scheinwerfer beleuchtet jeweils die im Mittelpunkt stehende Figur. Schauspieler ziehen sich an und um, sie schminken sich auf der Bühne. Blut ist eindeutig Theaterblut.  Und dennoch berührt dieser Abend mit einem exzellenten Ensemble ungemein – sowohl durch die tragische Geschichte der Mutter John wie auch durch die humorvolle Auseinandersetzung mit dem Theater an sich.

Lina Beckmann ist eine ergreifende Jette John, die den Zuschauer immer wieder den verzweifelten Abgrund, das Elend der kinderlosen Frau hinter der resoluten Fassade ahnen lässt. Man spürt physisch ihre Anstrengung, das erkaufte Kind zu behalten, die Wahrheit zu vertuschen. Nicht zuletzt vor ihrem Mann, den Bernd Grawert als stumpfen, schlichten Arbeiter spielt. Lena Schwarz spielt zum einen Walburga als braves Töchterlein, das aufmupft gegen den strengen Vater. Sie verkörpert aber auch eindringlich die polnische Pauline, die mit aller Hysterie und Emotion doch immer wieder den Kürzeren zieht. Sie verliert ihr Kind und hat keine Chance, es wieder zu bekommen und bezahlt diesen Versuch mit ihrem Leben. Yorck Dippe steht zweifellos mit im Zentrum dieses Abends. Grandios als ignoranter, selbstherrlicher Theatermann Hassenreuter, der arrogant jedem Anweisungen und Verhaltensvorschriften gibt, weiß er doch genau, was das Publikum will. Der ewige Streit zwischen ihm und seinem lispelnden Schüler Spitta (Jan-Peter Kampwirth: sehr gut als glühender Verfechter eines Theaters, das das „echte Leben“ auf die Bühne bringt, [„keine Kunstkacke mehr“]) hat fast schon parodistische Züge. Kampwirth überzeugt auch als Jette Johns leicht debil wirkender, kleinkrimineller Bruder Bruno. Weitere Mitwirkende in diesem hinreißenden Abend sind Kate Strong, die besonders als englisch fluchende Morphinistin Sidonie Knobbe in Erinnerung bleibt. Auch Michael Weber spielt mehrere Rollen, so den biederen Blockwart-Hausmeister und den dienstbeflissenen Schutzmann. Jennifer Frank ist die schwäbelnde Sozialarbeiterin Kielbacke, aber auch die verhuschte Selma Knobbe.

Man kann nur bewegt/begeistert sein von diesem zeitlos aktuellen Abend, der virtuos mit den Mitteln des Theaters spielt.