Übrigens …

Kabale und Liebe im Mülheim, Theater an der Ruhr

Schöner Fisch

Mal ganz ehrlich: Vor die Wahl gestellt zwischen diesem etwas pummeligen Bauerntrampel Luise, dieser nölenden Schnepfe, die minderbemittelt in ihren geistigen Fähigkeiten und wenig gewandt im gesellschaftlichen Auftritt scheint, und jener elegant in weiß gekleideten formvollendeten Verführerin Lady Milford, von der wir uns widerstandslos das Hemd aufknöpfen lassen, wüssten wir wohl, wie wir entscheiden würden: Die Milford ist, auch wenn sie in den hundert Minuten von Jo Fabians Aufführung stumm ist wie die Fische, die Herr von Walter angelt, eine ziemlich heiße Braut. Luise könnte ja bei uns die Kühe hüten.

Dabei kennt Luise durchaus ihren Schiller. „Auch will ich ihn ja jetzt nicht, mein Vater! Dieser karge Tautropfen Zeit – schon ein Traum von Ferdinand trinkt ihn wollüstig auf. Ich entsag‘ ihm für dieses Leben“ – nanu, nach so viel stiller Einfalt und wenig edler Größe plötzlich so ein pathetischer Schiller-Text? „Hast Du Dir das ausgedacht“, fragt auch Vater Miller überrascht. Was Luischen erwartungsgemäß verneint – die hat vermutlich so wie die vielen Schülerinnen und Schüler um uns herum einfach nur Kabale und Liebe in der Schule gelesen. Lady Milford dagegen…: nicht dass sie nichts sagte: Sie röhrt Rammstein ins Mikro, im Playbackverfahren zwar, aber immerhin: „Stein auf Stein mauer ich dich ein … Draußen wird ein Garten sein und niemand hört dich schrei’n.“ Ich sag’s ja: ‘ne geile Braut, aber es prüfe, wer sich ewig binde…!

Zu diesem Zeitpunkt setzt der unwiderstehliche Sog einer Aufführung ein, die zwar die Zielgruppe der Abiturientinnen und Abtiurienten im Zentralabitur 2014 und 2015 ansprechen soll, aber beginnt wie albernstes Kindertheater. Nach einer Stunde sitzt der Rezensent, der sich anfangs grausend abwandte, gebannt vor den sieben Schauspielern. Obwohl deren Qualität extrem heterogen ist. Schiller hat sein Drama zunächst Luise Millerin genannt; in Mülheim müsste die Aufführung eigentlich „Ferdinand von Walther“ heißen: Boris Schwiebert ist nicht weniger als ein Ereignis. Was für eine traurige Figur, dieser komische Zirkusclown mit seinen schwarz verschatteten Augen – und was für eine Körperbeherrschung hat dieser Schauspieler: Wie er sich windet und verrenkt, wie er den bettelnden Hund, den gezähmten Löwen gibt – oder im Moment des vermuteten Liebesbetrugs brüllt wie eine irre gewordene Kuh – phantastisch! Dieser Ferdinand ist völlig deformiert von den Verhältnissen, von der seinem Naturell widersprechenden Erziehung am Hofe, von den Zwängen, denen sein Denken und Handeln unterworfen wird. Er stottert – bei Papa stärker als bei Millers zu Hause -, kann weder gerade gehen noch geradeheraus sprechen. Doch als er sich erstmals gegen seinen Vater zu seiner bürgerlichen Liebe bekennt, gewinnt er eine traurige Größe, und nach einer zweiten Auseinandersetzung mit dem Präsidenten wird seine Sprache flüssiger und er scheint Tatkraft und Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Keiner anderen Figur in dieser Inszenierung ist eine solche kluge, facettenreiche Entwicklung mitgegeben. Nicht Wurm, der von Jo Fabian in ein wunderschönes Schmierlappen-Kostüm gesteckt wurde, aber schauspielerisch bei Marco Leibnitz enttäuschend blass bleibt, und auch nicht Präsident von Walter. Dem immerhin verleiht Thomas Schweiberer einen köstlichen Tick: Er angelt. Keine Mätressen, sondern Fische, Luftfische, mit Luftködern und Luftangeln: „Schöner Fisch“, ruft er wieder und wieder und rollt seine Angel ein, wechselt den Köder und wirft sie zurück. Das erinnert in seiner Absurdität an Büchners König Peter vom Reiche Popo; wie dieser leidet der Herrscher eines mikroskopisch kleinen Staatsgebildes an Langeweile und an seiner Überflüssigkeit, die andererseits eben auch aus der Ideenlosigkeit und mangelnden Gestaltungskraft eines schwachen Herrschers resultieren.

Diese politischen Andeutungen aber sind in Jo Fabians Inszenierung nicht von Bedeutung. Da ruft Vater Miller zwar mal die Revolution aus („Tod der Aristokratie!“) und veralbert seinen Schiller mit „Jetzt machen wir’s wie Robespierre – in zehn Jahren“ (Kabale und Liebe wurde im Jahre 1784 uraufgeführt – gut acht Jahre vor dem Tuileriensturm und der Absetzung von König Ludwig XVI.); da liefert Luise mit dem zu Gabriella Webers Rolleninterpretation ganz und gar nicht passenden Kommentar zur erhofften nahenden Abschaffung der Standesunterschiede beiläufig die politische Schiller-Interpretation mit, aber das sind eher Alibi-Momente: Man zeigt, was man weiß, aber nicht zeigen will. Fabian konzentriert sich ausschließlich auf die Liebesgeschichte und erzählt diese als Comic mit viel Trash.

Und doch mit viel Gefühl. Ihre emotionale Wirkung bezieht die Inszenierung aus ihren Choreographien im Verein mit der nahezu ausschließlich vom Band gespielten suggestiven Musik. Nicht von ungefähr kommt Annegret Thiemann, die Darstellerin der Milford, vom Tanztheater. Da gibt es zum Beispiel gegen Ende einen in den Bann schlagenden stummen Tanz der Rivalinnen, Milford tanzt mit verbundenen Augen, Luise mit tiefschwarzer Sonnenbrille; Wurm und Walter haben eine hübsche Synchron-Angelszene zu einschmeichelnder Walzermusik; großartig choreographiert ist die Verführungs-Szene zwischen Milford und Ferdinand. Ja, auch Ferdinand kann tanzen: ein beeindruckendes, herzergreifendes Solo auf dem Weg zum Vater zeigt seine ganze Zerrissenheit, seine Ängste, seine seelische Deformation – und reizt zum Lachen, ohne die Figur zu denunzieren. Diese Choreographien können süchtig machen: sie sind es, die die Qualität dieser Aufführung ausmachen. All das hat Sentiment, ist aber kein Kitsch: denn unverkennbar bleibt die Ironie, die in diesem Gestaltungsmittel liegt. All das bläst den Kopf frei – und macht Platz für eine andere Art des Verstehens: über alle sieben Sinne und Empfindungen.

Sie werden alle wieder schreien, die Stadelmaier- und Bazinger-Groupies: Da werde der Schiller banalisiert und populistisch verflacht; da werde seine politische Dimension vollkommen übersehen; die Fallhöhe des Dramas sei nicht größer als ein Sturz vom Bordstein an einem behindertengerechten Straßenübergang. Das stimmt ja alles, liebe Sängerinnen und Sänger des Hohelieds der Klassik. Jo Fabian singt eben Rammstein. Und er macht aus dem aus heutiger Sicht in der Tat fragwürdig hohen Ton der Schillerschen Verse einen Comic. Sorry, liebe Lehrer: Sie müssen den Kindern halt die Anliegen des Sturm und Drang, die klassenkämpferischen Komponenten oder gar die Hinweise auf einen menschenverachtenden Überwachungsstaat im Unterricht erklären. Aber die jungen Leute erleben, was Theater alles kann. Wie es mit Musik und Choreographie und Schauspiel einen unwiderstehlichen Sog entfalten kann. Wie es unterhalten kann – mit Comic und Comedians, und doch weit, weit über RTL-Niveau. „Wie ein Horrorfilm“, flüsterte meine Nachbarin immer wieder begeistert – auch wenn sie in der Klassifizierung leicht daneben lag: Ich wusste, was sie meinte. Beim Schlusspfiff sprang der junge Mann vor mir begeistert auf zu Standing Ovations. 

Ja, es war Schiller light: es war ein Trip und keine Analyse. Aber so, liebe Lehrer, gewinnt man auch junge Leute fürs Schauspiel, und der Schreiber dieser Zeilen hat sich mit großer Freude auf den Trip mitnehmen lassen.