Übrigens …

Woyzeck im Mülheim, Theater an der Ruhr

Der Eisblock wird zur Guillotine

Die Krähen schrein. „Immerzu, immerzu“, raunt es. „Stich die Zickwölfin tot.“ So beginnt Roberto Ciullis Version des Woyzeck am Theater an der Ruhr in Mülheim, so beginnt Rupert J. Seidl seinen Text - mit Motiven, die in den meisten Inszenierungen von Georg Büchners Dramenfragment erst gegen Ende erscheinen. Es sind Motive, die sich wiederholen werden an diesem zutiefst pessimistischen Abend: immerzu, immerzu. Leise, ganz leise singt der Chor das Lied von den zwei Hasen, die zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal vom Jäger niedergeschossen wurden. Die Hasen überleben. Überleben zu müssen, ist in der Welt von Ciullis Woyzeck nicht das Wünschenswerteste aller Schicksale…

Woyzeck ist in den klassischen Interpretationen des Stücks ein tumber Geselle mit geringem Intelligenzquotienten, der den Intrigen um ihn herum nicht gewachsen ist – nicht der Manipulation durch seine Vorgesetzten, nicht dem präpotenten Gehabe der höher dekorierten oder schöner geschmückten Soldaten-„Kameraden“ und nicht der Lebenslust und den sexuellen und materiellen Sehnsüchten von Marie, seiner Lebensgefährtin und der Mutter seines Kindes. Diese Grundkonstellation gibt es auch in Mülheim, doch Rupert J. Seidls Woyzeck ist nicht gar so eine schlimme Dumpfbacke: Mühsam zwar bahnen sich die Gedanken den Weg durch seine Gehirnwindungen, doch philosophiert er durchaus interessant über die Zusammenhänge zwischen Armut und Moral – und was ihm der Hauptmann nicht glaubt, vermag der Zuschauer besser nachzuvollziehen als in vielen anderen Inszenierungen: Dieser Woyzeck hat eine Moral, und er möchte verdammt gerne nach ihr leben. Die Beziehung zwischen Marie und dem Tambourmajor wird von ihm nicht nur intuitiv erkannt, sondern auch reflektiert: „Du bist hirnwütig, Franz“, sagt Marie, und sie meint in Mülheim nicht nur das Irre, Wirre in seinem Kopf: „He thinks too much. Such men are dangerous“, wusste schon Shakespeares Julius Caesar.

Nun, aus Seidls auch sprachlich eigenständig, weniger einfältig als üblich interpretiertem Woyzeck wird weder ein Cassius noch ein Sloterdijk, aber ganz grenzdebil ist er auch nicht. Immer stiller wird er im Verlauf der Aufführung; seine Nerven sind gespannt, stumm beobachtend registriert er, was in seinem Umfeld geschieht. Seine Blicke berühren. Immerzu, immerzu erspürt er Konkurrenz, Unmoral und Ungerechtigkeit um ihn herum; er frisst die Erniedrigungen in sich hinein, nach außen kaum Regungen zeigend. Wer Seidl beobachtet, weiß: Da wird bald etwas im- oder explodieren…

Neben Seidl überzeugt in Mülheim vor allem Dagmar Geppert als Marie, ein lebenslustiges Schneewittchen zunächst, aber dem Manne letztlich willenlos untertan – nicht ihrem Manne, sondern jedem, der ihr Sex und Wohlstand bietet: Wie eine läufige Hündin schmachtet Marie den wie ein lächerliches, schwules Zirkuspferd über die Bühne tänzelnden Tambourmajor an, schnuppert mit animalischer Geilheit an ihm und seinem Geschmeide. Der lässt sie dafür am Seil tanzen, führt sie am Gängelband: und Marie schnaubt wie ein Pferd, lässt sich auf das Spiel ein, ohne sich der Erniedrigung, die sie mit solchen Spielen erfährt, bewusst zu sein; dann wieder bespringt sie ihren Franz wie ein brünstiges Tier. Nur das Kind, gespielt von dem 43jährigen Khosrou Mahmoudi, das sie ebenfalls bereits mit sexuell aufgeladener Aggressivität begrapscht, stößt sie von sich: anstatt es behutsam zu leiten, lässt sie es fallen, um ihr eigenes Begehren zu befriedigen.

Mit Ausnahme der „Familie Woyzeck“ treten alle anderen Schauspieler aus dem achtköpfigen Orchester hervor, das mit den unterschiedlichsten, oft sehr schrägen musikalischen Darbietungen unsere Assoziationen lenkt: „Ein musikalischer Fall“ lautet der Untertitel der Aufführung. Wie so oft bei Ciulli sind es nicht in erster Linie die Schauspieler, die den Reiz und die Faszination der Inszenierung ausmachen, sondern es sind die Forschungsergebnisse seiner Reise in die Untergründe des Textes und die Konsequenz, mit der er uns diese Ergebnisse präsentiert. Das viehdumme Indiviehduum, das uns der Büchnersche Marktschreier vorstellt, ist: Woyzeck selbst. Er hat eine schwarze Kapuze über dem Kopf, und um ihn herum, ganz nah an seinen Ohren, rumort das Orchester, bedroht ihn mit lauten Disharmonien. Am Ende ist es nicht Woyzeck, der seine Marie tötet, sondern sie geht in einer Massenvergewaltigung durch das dumpfe, triebgesteuerte Volk unter. Gewalt, animalische Sexualität, unsinnig erscheinende militärische Rituale wie Trommeln und bunte Uniformen, mit denen schon das (kleine?) Kind erzogen wird, führen in eine dunkle Alptraumwelt ohne Ausweg.

In eine Kälte, die uns umbringt. Kay Voges lässt seinen Woyzeck am Schauspiel Dortmund in Tonnen von Schnee und Eis spielen – „Die Hölle ist kalt, wollen wir wetten?“, sagt sein Woyzeck. In Mülheim tropft am rechten Bühnenrand ein halbhoch gehängter großer Eisblock. Stets im gleißenden Scheinwerferlicht, auch wenn auf der gesamten übrigen Bühne das Licht aus ist, symbolisiert er die Kälte dieser Welt. Am Schluss wird der Eisblock zum Fallbeil für Woyzeck, zu seiner Guillotine. Drum herum stehen die Kapuzenmänner wie der Ku-Klux-Klan. Auch die Hölle wird kalt für Franz Woyzeck.

Nun erst, als die Geschichte zu Ende ist, erzählt die Großmutter dem Kind das berühmte bitterböse Anti-Sterntaler-Märchen. Nun ist wieder alles still als wäre die Welt tot. Aber das Kind lebt. Elternlos; der Mond nur noch ein Stück faul‘ Holz, die Sonne ein verwelkt‘ Sonnenblum‘, und die Erde unbewohnbar, ein umgestürzter Hafen. Die Einsamkeit selbst wird hier zum Langstreckenläufer, und Hilfe ist nirgends.