Übrigens …

Hiob

Menuchim: Ein Frosch oder der moderne Mensch?

Ab dem Jahre 2014 ist Hiob Pflichtlektüre für das NRW-Zentralabitur im Fach Deutsch: dieser wunderschöne, sprachlich so sensibel erzählte „Roman eines einfachen Mannes“ über den frommen ukrainischen Juden Mendel Singer. Mendel erfährt wie der biblische Hiob in seinem Leben viel Leid und Missgeschick; eines seiner Kinder und seine Frau sterben, von einem zweiten Sohn verliert sich die Spur im Krieg, seine Tochter wird wahnsinnig und sein jüngster Sohn, als schwerstbehinderter Epileptiker geboren und bei der Auswanderung der Familie nach Amerika im Heimatdorf zurückgelassen, droht dort ebenfalls unterzugehen. Wie einst Hiob verflucht Mendel Gott. Doch dann steht sein behinderter Sohn plötzlich gesund und munter als weltberühmter, erfolgreicher Komponist und Dirigent in Mendels ärmlicher Wohnung in New York. Da preiset alle Gott…

Joseph Roths Roman ist von funkelnder sprachlicher Schönheit. Ihn zu lesen, ist für den reifen Erwachsenen ein Genuss. Zu vermitteln, was er uns und den 17- bis 18jährigen angehenden Abiturienten heute noch zu sagen hat, ist dagegen eine echte Herausforderung – allzu viel Übertragbares auf die modernen Zeiten findet sich wahrlich nicht. Oder doch?

Nö, sagt ZEIT-Literaturkritikerin Iris Radisch, und stellt treffend fest: „Böse gesagt, leidet Lehrer Mendel daran, dass sich die Zeiten ändern und den Stumpfsinn seines Lebens bedrohen.“ Nichts liegt ihm ferner als eine liberale Lebenseinstellung. Insbesondere im ersten Teil des Romans ließe sich die Geschichte für heutige Verhältnisse radikal zuspitzen. Denn Mendel erscheint als störrischer Fundamentalist ohne jegliche Bereitschaft zur Integration, sein Sohn Jonas als tumber Militarist, Tochter Mirjam als sexgeile Nymphomanin, und Sohn Schemarjah könnte man, wenn auch etwas weit hergeholt, als monetär motivierten ausbeuterischen Kapitalisten charakterisieren. Unter den Juden in Russland herrscht die Solidarität der unterdrückten und verarmten Volksgruppe; innerhalb der Familie Singer ist im Hinblick auf Solidarität allerdings Fehlanzeige, nimmt man Schemarjahs Zuneigung zu dem behinderten Menuchim aus.

Und das Ende der Geschichte? Das ist schon mehr als merkwürdig. Es muss schon mehr als Liebe und Magie in Mamas Küche zusammengerührt worden sein, damit der hoffnungslose Fall Menuchim nach Jahrzehnten als strahlender Held der musikalischen Performing Arts dortselbst auftaucht: „Jemand muss den Frosch an die Wand geworfen haben“, lästert Iris Radisch. Doch Koen Tachelet, der aus Joseph Roths Roman eine kaum minder sensible Theaterfassung zusammengestrickt hat, hält den späten Menuchim für „ein Modell für den neuen europäischen Menschen: (für) jemand(en), der die moderne Welt bejaht, ohne sich seiner geistigen Wurzeln zu entledigen.“ Da deutet sich doch ein schönes Abitur-Thema an…

Fast gleichzeitig haben sich nun Bettina Jahnke am Rheinischen Landestheater Neuss (hier die theater:pur-Besprechung unseres Autors Andreas Falentin) und Wolfgang Engel am Grillo-Theater Essen des Stoffs angenommen. Ihr Vorgehen gleicht sich – und ist doch vollkommen unterschiedlich. Die Radikalisierung versagen sie sich. Beide gehen erzählerisch vor und halten sich dabei eng an die Vorgaben des Texts von Buch und Stück. Bettina Jahnke hat den Roman ungeheuer genau gelesen und setzt die Sprache und die Atmosphäre des Buches in ihrer Bühnenfassung mit großer Empathie um. Es soll ja immer noch Abiturienten geben, die selbst die Zentralabitur-Literatur nicht lesen, sondern sich mit einer Inhaltsangabe und ein wenig Wikipedia- und Google-Studium begnügen: Wenn sie Jahnkes Inszenierung sehen, könnte das fast genügen.

Wolfgang Engel in Essen dagegen geht emotionsloser an seine Inszenierung heran. Er hat den Text von allen Sentimentalitäten befreit und entwickelt manche Inszenierungs-Idee, mit der er die Aufführung stärker vom Roman emanzipiert als Bettina Jahnke in Neuss. Wunderbar, wie das sexuelle Erwachen, ja: das sexuelle Drängen Mirjams unmittelbar der nachlassenden sexuellen Attraktivität und Lust Deborahs gegenübergestellt wird – ein Fundstück der Roman-Interpretation. „Die Scham stand am Beginn unserer Lust, und am Ende steht sie auch“ – bei Bettina Schmidts Deborah in Essen klingt dieser Satz versöhnlich; Ulrike Knobloch in Neuss spricht ihn traurig und voller Melancholie.

Flugzeuglärm und Fliegeralarm als Zeichen für den Beginn des Ersten Weltkriegs, die wie ein Orakel aus der griechischen Sagenwelt gesprochene Vorhersage des Rabbis bezüglich Menuchims Gesundung, das den Zuschauer physisch schmerzende Trommeln der Kinder auf dem über Menuchims Kopf gestülpten Eimer – zu Beginn erscheint es, als sei Wolfgang Engel mit höherer Kreativität an seine Inszenierung gegangen als das Neusser Team. Doch scheint auch er wie Mendel und Deborah vor der Zeit die Lust verloren zu haben: Es kommt nur wenig nach. Und das Verblüffende ist: Neuss hat sogar die besseren Schauspieler!

Nur Annika Martens‘ temperamentvolle Essener Mirjam scheint ihrem Neusser Counterpart Sigrid Dispert, die erst in der Nervenkrankheit an Intensität gewinnt, überlegen. Ausgerechnet die zentrale Figur der Erzählung, ausgerechnet Mendel Singer bleibt jedoch in Essen eine Leerstelle. Tom Gerber, sonst einer der Stärksten im Essener Ensemble, wirkt völlig indifferent seiner Rolle gegenüber und vermag uns Mendels Seelenqualen kaum einmal zu vergegenwärtigen. Johann David Talinskis Darstellung des Menuchim als nackter, verwachsener Krüppel wäre durchaus beeindruckend, hätten wir nicht zuvor Henning Strübbe in Neuss erlebt: Mit kahlem, für seinen schmalen Körper viel zu großem Kopf kraucht Strübbe auf der Neusser Bühne herum, anrührend realistisch und herzergreifend wimmernd. Ganz leise, fast unmerklich zucken seine Hände - vor allem, wenn Musik erklingt, wenn die Glocken läuten: früh schon weist Strübbe mit solch kleiner Geste auf das Talent des späteren Musikers hin. Was Strübbe in dieser Rolle abliefert, geht weit über das Erwartbare an einem kleinen Landestheater hinaus.

Auch Mendel ist bei Joachim Berger in Neuss in guten Händen. Der Talmud-Lehrer, der nicht lesen kann, sitzt zu Beginn verständnislos inmitten seiner Familie und blättert in der Thora, während eine Collage der weltlichen Wünsche seiner Familie an ihm vorüberrauscht. Das Fundamentalistische, das Mendel zu Beginn der Geschichte „auszeichnet“, ist hier – den Absichten Joseph Roths zweifellos gerecht werdend – nur das Sture, aber Selbstgewisse, die ausschließliche Konzentration auf den Glauben. Wie fortschrittsfeindlich das dennoch ist, zeigt sich nach Ankunft der Familie in Amerika, wo alle Familienmitglieder sich sofort westlich-modern kleiden, Mendel aber in traditioneller jüdischer Kluft verharrt, obwohl er sich „die eiserne Klammer des Lächelns“ verordnet. Ganze Geschichten erzählen Joachim Bergers Augen, als Sameschkin ihn daheim in Russland vor der Abreise nach New York anspricht: „Siehst du, wie schön das Land ist.“ Ins Herz getroffen, blickt Bergers Mendel in die Ferne, vor Kummer erstarrt. Und wir spüren: Er schaut in sein Schicksal, in das moderne Amerika, das wider seinen Willen über ihn kommt. Seine spätere Wutrede an Gott hält er unter permanenten Verbeugungen, bis dass er fast in Trance fällt: Er ist ein immer noch gläubiger, aber ein verzweifelter Jude. – So behutsam und exakt ist Mendel in Neuss gezeichnet.

Auch auf die Nebenfiguren hat Bettina Jahnke erheblich mehr Sorgfalt verwandt als Engel. Die beiden so unterschiedlichen Brüder Jonas und Schemarjah sind in Essen praktisch ununterscheidbar. In Neuss, wo in dem sinnfälligen Bühnenbild von Juan León jede das Haus verlassende Person ihren Stuhl in das chaotische Möbelgebirge des Bühnenbildes hängt, schmettert Jonas sein Sitzmöbel wütend in den Haufen, während Schemarjah seinen Stuhl behutsam in das fragile Gebilde einhängt. Michael Putschli wiederum gelingt mit der Figur des effeminierten schwulen Kapturak eine feine, ganz und gar eigenständige Charakter-zeichnung. Für so etwas war in Essen offenbar keine Zeit.

Spannend allerdings und in beiden Inszenierungen gleichwertig sind die unterschiedlichen Interpretationen des genesenen Menuchim bei seinem überraschenden Auftauchen in New York. Jahnke hält es da offenbar mehr mit Iris Radischs Skeptizismus: Henning Strübbe bewegt sich ungelenk und maschinenartig wie ein Automatenmensch. Auch das Zittern der Hand ist zurück. Deutlich verweist diese Interpretation auf die Unglaubwürdigkeit einer solchen deus-ex-machina-Lösung. Wolfgang Engel in Essen dagegen schließt sich der optimistischen Tachelet-Lesart an: In einer Aufführung, die ansonsten ganz ohne Musik auskommt, spielt der restlos geheilte Menuchim mit einer neunköpfigen Kapelle live on stage. Er ist der Vertreter einer neuen Welt: einer Welt mit U-Musik und beweglicher Limonaden-Werbung. Das stimmt auch den Zuschauer versöhnlich. - Lehrer machen nichts falsch, gleich ob sie ihre Schüler nach Neuss oder nach Essen schicken. Aber in Neuss sehen sie die Arbeit, auf die so viel Sorgfalt verwandt wurde, wie sie sie von ihren Top-Abiturienten erwarten.

Premiere 21. Oktober 2012 (Essen)/15. September 2012 (Neuss)
besuchte Aufführungen 26. Oktober 2012 (Essen)/2. Oktober 2012 (Neuss)