Übrigens …

Von Mäusen und Menschen im Studio-Bühne Essen

Harte Männer ganz weich

Schon das Ambiente ist die halbe Miete: Nicht in dem kleinen, kompakten Zuschauerraum lassen Theaterleiterin und Regisseurin Kerstin Plewa-Brodam und Dramaturgin Sarah Jäger ihre Bearbeitung von John Steinbecks Novelle Von Mäusen und Menschen spielen, sondern im Foyer, mit Blick auf das Treppenhaus. Oben haust der Boss mit seiner Familie, im Abgang zum Keller wird später der einarmige Candy sitzen, der zu nichts mehr nutze ist als mit seinem einem Arm den Boden zu putzen. Ganz dicht kommen die Figuren an den Zuschauer heran – und so dicht, wie sie uns physisch auf die Pelle rücken, so nah werden sie uns später auch emotional kommen: „Man ist ja fast zu Tränen gerührt“, sagte meine Begleiterin am Ende. An einem Ende, das wir nicht verraten…

Am Anfang steht Lennie da – Lennie, der geistig zurückgebliebene Wanderarbeiter, tapsig, unbeholfen - ein riesiges, gutmütiges Kinderschokoladen-Ei, aber von ungeheurer Kraft, die er nicht zu kontrollieren vermag. Lennie steht da, streichelt Mäuse tot und träumt von Kaninchen. Voller Sehnsucht nach etwas Schönem, etwas Weichem, um das er sich kümmern kann; nach flauschigem Fell. Kaninchen halt. Das rote Kleid der jungen Frau, die er an seiner letzten Arbeitsstelle traf, war etwas ähnlich Schönes, und auch das hat er gestreichelt. Da mussten Lennie und sein Freund George Stadt und Arbeitsstelle fluchtartig verlassen, um einer Vergewaltigungsklage zu entgehen. Geld hat dieser frühere Farm-Aufenthalt wieder mal nicht eingebracht.

Dabei träumen Lennie und George von einem „Anwesen“, das sie sich kaufen werden, wenn sie einmal zu Geld gekommen sind. Mit einem Haus, mit Tieren und ein wenig Unabhängigkeit – und mit Kaninchen. Berührend ist es, wenn Thorsten Simon als George immer wieder die gleiche Geschichte erzählen muss; von den vielen Wiederholungen längst genervt, leiert er sie lustlos herunter, doch Lennie träumt, ergänzt mit verklärter Miene, was George noch nicht erzählt. Lennie kennt sie längst auswendig, will sie wörtlich hören wie Kinder die Gutenacht-Geschichte – jeden Abend von neuem, aber bloß nicht mit neuen Wendungen. Es ist die alte Geschichte vom American Dream, und wir ahnen, dass dieser für George und Lennie nicht wahr werden wird. Oder doch? - Lennie jedenfalls, an neuer Arbeitsstätte angekommen, hat auch diesbezüglich ein kindliches, vielleicht gar ein tierisches Sensorium – er spürt, der Ort wird ihm kein Glück bringen.  

Nach der Aufführung sagt Sebastian Hartmann, der Darsteller des debilen Lennie, das Schwierigste an seiner Rolle sei, vor Beginn die Leere in sein Gesicht zu bringen. Wie oft erleben wir vergleichsweise hochbezahlte Protagonisten an den Stadt- und Staatstheatern, die genau daran scheitern: die ihren Figuren das ganze mimische und gestische Repertoire des armen, tumben Toren mitzugeben verstehen, aber nicht die dem Schauspieler eigene hohe Grundintelligenz aus dem Gesicht kriegen. Hartmann, der wie alle Mitglieder des Ensembles maximal die Busfahrkarte zur Essener Korumhöhe erstattet bekommt, macht das perfekt. Er ist die Anchor Person für die Aufmerksamkeit der Zuschauer, berührend in seiner kindlichen Sehnsucht, Mitleid und Trauer auslösend ob seiner zerstörerischen Kraft, die er bei gut gemeinten Aktionen entwickelt, staunen machend, wenn er erspürt, was er intellektuell nicht begreift. Großes Kino!

Aber auch die übrigen Schauspieler dieses 80minütigen Abends überzeugen. Da ist Kalle Spies als Candy, der einarmige Underdog unter den Underdogs, der ein wenig Geld gespart hat und seine Chance sieht, sich Georges und Lennies amerikanischem Traum anzuschließen – zurückhaltend, aber hoffend, und bei aller Zurückhaltung spürt man sein inneres Drängen. Da ist Sandra Busch als Eve, kokett zu Beginn, als Nutte verunglimpft von den Männern, aber dann desillusioniert und mit bitterer Härte ihre Einsamkeit in der Ehe mit dem unsympathischen Möchtegern-Macho und Raufbold Curley herausrufend. Dieser Curley, der Sohn vom Boss, packt den Zuschauer als das krasse Gegenstück zu Lennie: klein und schmächtig, mit Goldkettchen und Schlägermütze gibt Kevin Gonska ihn wie den Proll im tiefergelegten Golf mit Doppel-Auspuff auf dem nächtlichen Großparkplatz vom Einkaufszentrum.

Kerstin Plewa-Brodam hat die klug eingestrichene Geschichte ohne Mätzchen inszeniert. Sie verlässt sich ganz auf die Wirkung der Erzählung und die Kraft und das Können ihrer Schauspieler. Ihr gelingt eine sensible Gratwanderung zwischen anrührenden Szenen und ganz leicht angedeutetem, aber für eine solche ur-amerikanische Geschichte ja fast unabdingbarem Pathos – in der Schlussszene zum Beispiel, die zu Tränen zu rühren vermag, oder wenn George und Lennie und Candy zu blechern-schrägen Nationalhymnen-Klängen in einem Moment der Hoffnung ins Weite schauen wie drei stolze Westernhelden im Hollywood-Trailer. Harte Männer ganz weich, in der Geschichte einer wunderbaren Freundschaft, die unglücklich endet, aber die Utopie nicht ganz aufgibt. – Im auch nach 10 Monaten noch ausverkauften Haus gab es langen Applaus.