Collage des Wahnsinns
Eine Büchner-Collage. „Büchner“ von Falk Richter. Von einem Regisseur und Autor, der sich selbst zu den Vertretern des postdramatischen Theaters zählt, der sich andererseits aber bereits seit seiner Jugend mit den Dramen und der Gedankenwelt Georg Büchners auseinandergesetzt hat. Er dürfte gegenüber den meisten Besuchern (einschließlich der Rezensenten) damit einen erheblichen Wissens-, vor allem aber Theorie-Vorsprung haben. Und den bringt er nun postdramatisch über die Rampe – das kann ja was werden.
Schwierig sei der Abend, warnten manche. Den Lenz müsse man schon kennen, Woyzeck und Dantons Tod sowieso, vielleicht noch Heiner Müllers Büchner-Preis-Rede von 1985 (mit dem Begriff „Die offene Wunde Woyzeck“ in den Zitatenschatz der Germanisten eingegangen), möglichst auch noch Büchners Briefwechsel und den Hessischen Landboten. Sonst noch was? – Na klar: Adorno und Slavoj Žižek, das eine oder andere Occupy-Pamphlet und den vor allem in linken Kreisen berühmt gewordenen Aufruf der Journalisten Vicky Skoumbi, Michel Surya und Dimitris Vergetis „Rettet das griechische Volk vor seinen Rettern“. Und anderes mehr. Das alles sollen wir uns also antun?
Ja. Denn es ist das Beste, was das Düsseldorfer Schauspielhaus in dieser Spielzeit bislang zur Premiere brachte. Nach zwei Monaten war das an Besucherschwund leidende Haus nahezu ausverkauft mit erfreulich gut durchmischtem, also auch jungem Publikum. Nichts von der mittlerweile in Düsseldorf um sich greifenden Unsitte, auch bei kleinsten Verstörungen gleich mit verärgerten Zwischenrufen zu reagieren. Den Lenz hatte keiner gelesen von den Zuschauern, die ich befragte. Verstanden hatten die Aufführung aber alle. Und emotional genossen vermutlich auch. Niemand von uns hat wohl jeden zitierten Text erkannt, alle aber die Intention der Inszenierung.
Eine Büchner-Collage also. Man erwartet, dass Georg Büchners Texte in der Wirklichkeit des Hier und Heute gespiegelt werden. Und merkt nach und nach: Umgekehrt ist‘s: Da wird die Welt von heute reflektiert in Büchner-Texten. Es beginnt mit Lenz. Xenia Noetzelmann begleitet den psychisch kranken Dichter ins Gebirg‘ – rauf und runter fahren drei Schichten Bühnenboden, denn Richter und seine Bühnenbildnerin Katrin Hoffmann haben vom „Prozess“-Manager Andreij Mogutschi gelernt, welch unendliche Möglichkeiten die Düsseldorfer Bühnentechnik bietet. Ein dunkler Soundtrack deutet an: Es gewittert. Das stimmt ein auf das, was folgt: fünfundvierzig Minuten Textfetzen und Fragmente aus dem Woyzeck-Fragment, alles, was dem Kenner dieses Dramas im Gedächtnis haftet, aber nicht als „Best Of“, sondern als Alptraum. Es wird keine Geschichte erzählt, sondern es werden Emotionen, Ängste, Lebensbedingungen dargestellt: Alles rennet rettet flüchtet; es wird gehastet, geeilt, gehetzt, schnell bekommt die Aufführung einen pulsierenden Rhythmus, da gespenstern die Texte durch alle sieben Schauspieler, oft treibend, atemlos. Der Zuschauer wird heimgesucht von der Gedankenwelt und der Sprache Büchners wie Lenz von seinen Angstzuständen. Judith Rosmair, später auch andere rattern ihren Text bisweilen zum Takt von Metronomen herunter – Metronomen, die die externe Vorgabe von Tempo und Lebens-Rhythmus symbolisieren, aber die exzellente Sprechtechnik aller sieben Akteure nicht beeinträchtigen. Unterstützt wird diese Atmosphäre von Ben Frosts manchmal geradezu unheimlich wirkender Sound-Collage aus Minimal Music, Geräuschen und viel Bass und Beat. An die Rückwand werden Videos projiziert: Textflächen, Fieberkurven, die an Börsendaten erinnern, Bilder diverser Riots, aus Brixton oder Tottenham, vom Tahrir-Platz, aus Libyen oder den Pariser Banlieues.
Tatsächlich verschränkt Richter mit zunehmender Dauer des Abends immer stärker die Büchner-Texte mit der heutigen politischen und ökonomischen Realität. Nie zuvor wussten wir, wie nah Woyzeck und Aktienhandel einander sind; globalisierungskritische Texte und Polemiken gegen die Dominanz des Wachstumsziels in unserem Wirtschaftssystem wechseln ab mit der klassenkämpferischen, aber auch blutrünstigen Rede des St. Just aus Dantons Tod, mit aus Woyzeck-Zitaten begründeten Aufrufen zu Gewalt; Wutbürger-Texte der Occupy-Bewegung finden ihren Widerhall im Hessischen Landboten. Da wird das Publikum aufgemischt wie in der vergangenen Spielzeit bei Hermann Schmidt-Rahmers Jelinek-Inszenierung Ulrike Maria Stuart in Essen – und tatsächlich: Die Zuschauer gehen mit, sie reagieren auf die Schauspieler, aber nicht wie in Düsseldorf üblich mit Schmähungen und „Buuhs“, sondern meinungsstark im Sinne der Inszenierung.
Auch an Falk Richters und Anouk van Dijks Rausch, die stärkste Düsseldorfer Inszenierung der vergangenen Spielzeit, fühlen wir uns erinnert: Wie dort gibt es eine aggressive Politkritik, deren Radikalität immer wieder unterlaufen wird durch eine in der Übertreibung liegende Ironie. Und wie bei Rausch gibt es auch Ratlosigkeit: Welche Gesellschaftsform geeignet wäre, den Kapitalismus zu ersetzen? Die Vorschläge sind vielstimmig, aber unentschieden. Studenten und Wissenschaftler verschwinden gegen Ende der Inszenierung unter Bergen von Büchern und Akten. Sie agitieren, diskutieren wild durcheinander – engagiert und unstrukturiert sondern sie nutzlosen philosophischen und politologischen Quark ab. Auch diese Denkfabrik hilft nicht weiter, aber solche Diskussionszirkel mögen Haltungen verändern: Nahezu alle sechzig- bis siebzigjährigen Zuschauer fühlten sich an ihre 68er-Jugend erinnert.
Erstaunlicherweise wirkt die Collage von Original-Büchner-Texten auch als Zustandsbeschreibung der heutigen Gesellschaft überzeugender als Richters eigene Texte oder gar die Occupy- und Vergetis-Pamphlete. Der lange Lenz-Monolog zum Schluss und die in ihrer Schnitttechnik weniger nervösen aktuellen Szenen im zweiten Teil der Inszenierung nehmen dem Abend ein wenig von der zu Beginn so mitreißenden Wucht. Aber das herausragende Schauspieler-Ensemble hält seine außergewöhnliche Qualität über die gesamten neunzig Minuten; es wäre unfair, einzelne Schauspieler herausheben zu wollen. Thomas Wodiankas ungewöhnliche Woyzeck-Interpretation darf dennoch nicht unerwähnt bleiben: jünger, feiner, hübscher, schüchterner ist er als wir uns diesen eher groben Klotz vorstellen, feingeistiger auch – und gerade darum außerordentlich überzeugend.
Der eine oder andere von uns mag sich gehetzt fühlen in der erfolgsorientierten, materialistischen Welt von Heute, so gehetzt wie im Wortsinne auch Büchner war, der Teile seiner Texte in Angst vor der Justiz und auf der späteren Flucht nach Straßburg schrieb. Mancher auch mag wahnsinnig werden an den Verhältnissen wie der Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz in Büchners Novelle Lenz. Alles in allem muss man die radikale Kritik an der besten Staatsform, die wir je hatten, und an einem Wirtschaftssystem, das uns mit überraschendem Erfolg durch die jüngste Krise gesteuert hat, jedoch nicht teilen, aber in einem war das äußerst heterogene Publikum einig: Wir hatten großes, polemisches politisches Theater gesehen – und eine irre Collage des Wahnsinns – des Wahnsinns im Kopf, in der Welt und an den Finanzmärkten. Hingehen!