Fünf Frauen und ein totes Pferd
Die 64jährige, in Westeuropa lebende Weißrussin Swetlana Alexijewitsch gilt als eine der exponiertesten Vertreterinnen der sogenannten „Protokoll-Literatur“, schreibt also Romane und Erzählungen, die aus unzähligen Interviews mit vom jeweiligen Sujet betroffenen Personen destilliert werden. In Deutschland wurde sie vor allem mit dem Roman Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft sowie mit dem themengleichen Hörspiel und Theaterstück Gespräche mit Lebenden und Toten bekannt. Ihr 1983 vollendeter Roman-Erstling Der Krieg hat kein weibliches Gesicht konnte erst mit Beginn der Perestroika im Jahre 1985 in stark zensierter Fassung in der UdSSR erscheinen. Er beschäftigt sich mit den Erlebnissen der mehr als eine Million sowjetischer Frauen, die als Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg eingesetzt waren. Am Düsseldorfer Schauspielhaus hat der junge polnische Regisseur Michal Borczuch das Buch nun in Szene gesetzt. Krieg sei eine Männer-Domäne, und über den Blickwinkel, den weibliche Kriegsteilnehmerinnen auf seine Gräuel haben, wisse man nichts, behauptet die Autorin. Manches, was wir in der zweistündigen Aufführung hören werden, erinnert dennoch sowohl im Hinblick auf das reale Geschehen als auch im Hinblick auf dessen psychologische Auswirkungen an Erich Maria Remarques Männer-Roman Im Westen nichts Neues.
Elena Schmidt spielt in Düsseldorf die Rolle der Swetlana. Sie bemüht sich keineswegs, dem Ego der realen Interviewerin und Schriftstellerin zu schmeicheln: insistierend, manchmal wie ein Maschinengewehrfeuer geht sie die teilweise traumatisierten Soldatinnen an, meist sachlich, dann wieder unsicher, zweifelnd an ihrer eigenen Kompetenz – aber sicher nicht mit allzu großer Empathie, obwohl sie doch „die Geschichte der Gefühle und der Seele“ sucht. So stößt sie auf Widerstand: „Lassen Sie meine Seele in Ruhe. Schreiben Sie über meine Medaillen“, blafft Claudia Hübbecker sie an, später, im zweiten Teil der Aufführung, als sich alle Protagonistinnen noch einmal zur Vorstellung des Buchentwurfs zum Kaffee treffen. Der Abstand, den Elena Schmidts Figur von ihren Probandinnen sucht, mag sowohl die Abgrenzung von eigenen Befindlichkeiten als auch die reservierte Haltung der sowjetischen Zivilgesellschaft gegenüber den Soldatinnen ausdrücken – und den eher erfolgsorientierten Ansatz der spätgeborenen Schriftstellerin, deren altruistische Absicht Borczuch in Zweifel zieht.
Vier Schauspielerinnen teilen sich sechzehn Rollen: Die sowjetischen Kriegsteilnehmerinnen sind Ärztinnen und Krankenschwestern, Scharfschützinnen und Funkerinnen, Partisaninnen und Flugzeug-Mechanikerinnen. Es ist ein konzentrierter Text, den wir hören, eine konzentrierte Aufführung, die wir erleben - nicht nur von den Zuschauern, auch von den Schauspielern ist konzentriertes Zuhören gefordert, denn sie interagieren nicht, sondern sie berichten unabhängig voneinander von ihren Erlebnissen. Sie müssen etwas tun, auch wenn sie viertelstundenlang nichts zu tun haben – und sie lösen dieses Problem überzeugend: Karin Pfammatter zittert, Claudia Hübbecker ist in sich versunken, wie abwesend: Arme und Beine in Abwehrhaltung vor dem Körper verschränkt, signalisiert sie: Vergangenheit, rühr mich nicht an! Die Schauspielerinnen zeigen unterschiedliche Mittel, mit Traumata umzugehen – jede Schauspielerin das ihre, aber die einzelnen Charaktere, die sie verkörpern sollen, immerhin im Durchschnitt vier pro Nase, bleiben weitgehend ununterscheidbar.
Zunächst ist es Karin Pfammatter, die ihre Geschichte erzählt, über Mikroport, mal leise, mal laut ausgesteuert, mal verzerrt, mal kommt der Text vom Band und sie spricht ihn im Playback-Verfahren mit den Lippen mit. So wird der Zuschauer geradezu infiltriert mit dem Text, zum Zuhören gezwungen – zum Miterleben einer erschütternden Geschichte: ein Kind sieht zu, wie seine Mutter erschossen wird, weil sie mit dem Vater verwechselt wird. Pfammatter steht in ihren Rollen an der Schwelle zum Wahnsinn, wobei ihr Irrewerden auch komödiantische Züge trägt – es sind die einzigen Szenen an diesem sehr ernsthaften Abend, die zum Schmunzeln reizen. Erst spät erzählt sie uns das Erlebnis, das sie verrückt gemacht hat: Sie sprang im Krieg mit vielen Verwundeten von einem brennenden Kahn. Beseelt von dem Gedanken, wenigstens einen der Ertrinkenden zu retten, packt sie sich einen riesigen Mann. Glitschig kommt er ihr vor – am rettenden Ufer angekommen, entpuppt er sich als Beluga-Stör.
Die Autorin Swetlana Alexijewitsch hat berichtet, dass die Frauen später ihre Kriegsteilnahme verschwiegen: Von der weiblichen Seite des Krieges wollte niemand etwas hören, als „Flintenweiber“ hätten sie keine Chance auf Gründung einer Familie gehabt. Janina Sachau offenbart diese Verdrängungstaktik am deutlichsten: Man spürt ihr Drängen, doch sie überwindet nicht ihre Hemmungen zu erzählen; sie weicht aus, erfindet auch mal Geschichten. Überzeugend stellt sie auf diese Weise ihre innere Zerrissenheit dar. Verdrängung ist für sie nicht nur Taktik, sondern Schutz und Überlebensstrategie. Später spricht sie ihre Erlebnisse aufs Band: als alle anderen den Raum verlassen haben. Sie hat ein Fohlen erschossen, weil ihre Einheit Hunger litt. Wie ein Mahnmal liegt das tote Pferd während der gesamten zweistündigen Aufführung in der Mitte der Bühne.
Introvertiert, geradezu verstockt wirken auch die Figuren von Mareike Hein, die zunächst eine Krankenschwester gibt. Unversehrte Männer kommen in ihrer Welt nicht vor: Wer durch ihre Hände geht, ist zerschossen, teilamputiert oder ähnliches. Heins unterschwellige Aggressivität bricht sich Bahn in kurzen, heftigen Ausbrüchen. Sachlich dagegen gibt sich Claudia Hübbecker, doch tiefe Traurigkeit schimmert durch ihr kühles, reflektiertes Verhalten durch. Wie bei den meisten übrigen Figuren erfahren wir spät, was sie lebenslang verfolgen wird: Sie hat einen erfolgreichen Intellektuellen zum Sohn – und eine behinderte, in einer psychiatrischen Klinik lebende Tochter, ein Mitbringsel aus dem Krieg, in dem die Frauen auch vor sexuellen Übergriffen kaum geschützt waren.
Die Aufführung wird ausschließlich von den fünf Schauspielerinnen und ihren Texten getragen. Es gibt wenig Handlung, kaum Requisiten, ein karges Bühnenbild. Manche der Episoden, die die Schauspielerinnen erzählen, berühren uns zutiefst. Dass wir des Öfteren die Charaktere nicht identifizieren können, mag bewusst in Kauf genommen sein – schließlich können auch sechzehn Frauen nur exemplarisch stehen für die traumatischen Erlebnisse der Million; da kann man das Ganze auch durch vier unterschiedliche Charaktere typisieren. Dennoch ist das manchmal unbefriedigend und ermüdend. Unterstützt wird die Darstellung aber von dem bemerkenswerten Soundtrack von Daniel Pigonski: Da steigern sich Straßengeräusche schon mal zu vorüberziehenden Militärkolonnen, die Schreie der Ratten und Mäuse gehen über in eine alptraumartige Soundkaskade – das verstärkt die emotionale Wirkung der Erzählungen.
Ob es ein starker Abend ist, sei dahingestellt – ein jeder wird das individuell entscheiden, je nach dem, wie ihn die einzelnen Episoden „angefasst“ haben. Aber Alexijewitschs Buch durch die fünf starken Schauspielerinnen vorgestellt zu bekommen, ist unbedingt lohnend.