Das Land so groß, der Mann so klein
„Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes!“ – Das war die Parole, die Wladimir Iljitsch Lenin Ende 1920 im Hinblick auf die bereits nach wenigen Jahren dahinsiechende junge Sowjetunion ausgab. Knapp zwei Jahre später wurde er krank; nach mehreren Schlaganfällen war er im Jahre 1923 kaum noch regierungsfähig. Er soll, so will es die Legende, in diesen späten Jahren weichherziger und nachgiebiger geworden sein. Vielleicht ein netter Opa gar, oder ein kindischer Alter? – Dmitri Krymow entwickelt da überraschende Ideen.
In seiner jüngsten Produktion Gorki-10 gibt der russische Theatermagier dem staunenden Publikum laut Untertitel „Russische Literaturstunden“. Die wären nötig, damit wir alle an diesem Abend zitierten Fragmente russischer Dramen erkennen könnten. Fragwürdige Literatur ist es zum Teil, die Krymow ironisiert: Das im Jahre 1940 uraufgeführte Glockenspiel des Kreml von Nikolai Pogodin zum Beispiel, der sich mit seiner Lenin-Trilogie zum Spin Doctor des sowjetischen Machthabers aufschwang und dessen Bild in der Öffentlichkeit zu polieren versuchte. Lenin empfängt den Ingenieur Sabelin, der Vorschläge unterbreiten soll, an welchen Stellen des riesigen Landes Kraftwerke gebaut werden könnten. Das Land ist leider flach wie eine Flunder, kein Fluss fließt schnell genug, um Amerikas Niagara-Fällen Paroli bieten zu können. Pogodins Image-Politur allerdings geht mit Schmackes den Bach runter: Krymow schafft energetisches absurdes Theater.
Gleich dreimal lässt er die Pogodin-Szene spielen, und mit jedem Mal wird die Geschichte grotesker und der Himmel über dem sozialistischen Paradies weiter: Zunächst ziehen über Moskau stürmische Wolken vorüber; noch ist das Land der Oktoberrevolution nicht zur Ruhe gekommen – es ist schön, es ist abenteuerlich, aber von vielen Unwettern bedroht. In Variante Zwei hat sich der Himmel in Marija Tregubowas Bühne verändert: Ein Sonnenuntergang zaubert die schönsten Rottöne des Sozialismus an den Horizont. (Nun ja: Isaak Babel schrieb im gleichen Jahre 1920 als Kriegsberichterstatter von Budjonnows Reiterarmee: „Die Sonne versank in einer roten Blutlache.“) Und beim dritten Durchlauf blicken wir in einen überwältigend klaren Sternenhimmel über Moskaus Rotem Stern: Per aspera ad astra ist man gelangt. Die Allee der Kosmonauten aber führt durch den Zuschauerraum; Lenin entert die Bühne von vorne, doch er hat Angst, er ist zum kleinen Kind geschrumpft.
Denn natürlich triefen die Himmel über Moskau vor Ironie. Die Elektrifizierung des großen russischen Reichs ist in die Hände völlig kraftloser Greise gegeben. Lenin ist im ersten Durchgang ein kindischer kleiner Gauner, Sabelin ein dicker, lethargischer Mann mit fiepsiger Stimme, der anstelle der E-Werk-Planung lieber über die Vorzüge der Urin-Therapie für alte Männer referiert – und ein Mensch namens Georgi Iwanowitsch Glagojew gibt ein kraft- und tonloses Bekenntnis ab, mit aller Energie die Pläne des Bolschewismus umzusetzen, bevor er sein Leben aushaucht. Immerhin kann man sich am Ende noch darum kloppen, wer stärker an die Elektrifizierung Russlands glaubt…
In Durchlauf Zwei spielt Michail Umanez den Lenin auf Deutsch - ein eingeschränktes Vergnügen für ein deutschsprachiges Publikum ist, da man ihn kaum versteht: Er gibt den mit nicht unbeträchtlicher finanzieller Unterstützung vom Deutschen Reich an die Macht gekommenen Lenin als deutschen Spion und setzt seine Tischlampe per Handkurbel unter Strom. Teil drei zeigt ihn zum kranken, einsamen alten Kind degeneriert, das sich verängstigt zu verstecken versucht: „Das Land ist groß, und ich bin klein.“ Der Lenin-Darsteller scheint noch weiter geschrumpft – erst nach geraumer Weile begreifen wir, dass es nun Marija Smolnikowa ist, die, täuschend ähnlich wie zuvor Umanez ausstaffiert, mit flatternd aufgeregter Stimme des Sowjethelden Alpträume erlebt: „Das bin ja nicht ich!“ Immerhin kommt der nun erstmals selbst auf die Ideen zur geographischen Platzierung der Kraftwerke: er ordnet an, befiehlt in kindlich hysterischem Ton, und Sabelin hat zu folgen. Das mag der Wahrheit nahekommen, aber ohne seine Gattin Nadja Krupskaja, die auch als Politikerin stets seine mutige Kampfgefährtin war, ist Lenin völlig verloren: Panisch seiner Naddel hinterherrufend, verschwindet er in den Weiten des Alls, während die Glocken des Kreml die Appassionata spielen. Im Sozialismus verbleiben nur noch Hasen, die brüderlich ihre Möhren teilen. - Ein langer Text aus Puschkins Boris Godunow schließt den ersten Teil des Abends ab: Wir erinnern uns vage – der sterbende Godunow erläutert seinem schwachsinnigen Sohn, wie er den Staat zu lenken hat. Bei Krymow drei war Lenin zum Ende schwachsinnig – und in der Realität hat er den ungeliebten Nachfolger Stalin inhaltlich nicht mehr erreicht.
Schauspielerisch ragen in diesem ersten Teil Michail Umanez und Marija Smolnikowa als Lenin sowie Alexander Anurow als Sabelin heraus. Letzterer schlüpft im dritten. Durchgang in die Rolle der Krupskaja – immer, wenn Männer Frauenrollen oder Frauen Männerrollen spielen, drehen die Schauspieler besonders komödiantisch auf, und die Phantasie der Kostümbildnerin Marija Tregubowa erlebt besondere Höhenflüge. Das gilt auch für den zweiten Teil des Abends: Puppen kommen nach der Pause als Akteure hinzu; aus allen Rohren wird geballert, und bald verlässt die Handlung auch den Rahmen von Tregubowas Guckkasten. In einem idealisierten russischen Wald robben weibliche Soldaten einen Hügel hinan – um oben erschossen zu werden. Ihre zivilen Kleidchen schweben zum Schnürboden: Himmelfahrt. Es sind Motive aus Wassiljews Novelle Im Morgengrauen ist es noch still, die wir sehen: Das Volk ist zu Marionetten geworden; der Unterschied zwischen Männlein und Weiblein verschwimmt, der Tod ist sinnlos - Heroen gibt es in dieser Version des Großen Vaterländischen Krieges nicht mehr: Das Grauen wird mit surrealer Ironie und mit bitterem Humor erzählt.
„Hier gibt es keine Frauen, hier gibt es Kämpfer und Kommandeure“, heißt es bei Viktor Rosow, dessen Stück Auf der Suche nach der Freude in die Aufführung einfließt. Erschossen wird alles, was kreucht, fleucht und Freude bereiten könnte: die Fische im Aquarium, Mickey Mouse und Miss Piggy, Winnie Pooh und Bart Simpson. Am Schluss entert Marija Smolnikowa noch einmal die Bühne: als stockbesoffene Theaterzuschauerin, die an der Garderobe festgestellt hat, dass man ihr das Portemonnaie geklaut hat. Einen nach dem anderen beschuldigt sie des Diebstahls – einer nach dem anderen wird zuerst erschossen und dann untersucht. Erst als der Chef des Erschießungskommandos sich selbst getötet hat, findet die Dame das Portemonnaie in ihrer Tasche. Was will man machen: Das Leben lässt sich nicht mehr zurückdrehen, bedauert die Lady achselzuckend und schwankt aus dem Raum.
Es war die Schlussszene von Wsewolod Wischnewskis Optimistischer Tragödie, angepasst auf unsere Theatersituation, die den Abend so zum großen Schlussapplaus führte. Krymows Inszenierung ist eher eine tragische Komödie. Ein absurder Rückblick auf entscheidende Momente der sowjetischen Geschichte anhand von russischen Dramen, vielleicht in seiner Absurdität und seiner Kompromisslosigkeit an Daniil Charms erinnernd, aber ohne das von diesem in einer totalitären Gesellschaft eingegangene Risiko und daher witziger, weniger beißend. Der Abend stimmt nachdenklich und ist dennoch in hohem Maße unterhaltsam; die von Krymow gefundenen Bilder sind ebenso phantasievoll wie die von den Schauspielern dargestellten grotesken Figuren. „Sie werden ein Russland erleben, wie Sie es noch nicht kennen“, hatte der Regisseur im Vorfeld gesagt. Und in der Tat fragen wir uns, was wir wohl an aktuellen politischen Anspielungen erkannt hätten, wenn wir das heutige Russland täglich erleiden müssten…
Übrigens: Die Absurdität, die in Krymows Aufführung so fasziniert, finden wir mühelos auch im Internet wieder. Wie groß war denn der kleine Lenin wirklich? – Kurz gegoogelt, und wir werden nicht nur schlau, sondern wissend: Lenin, sagt wissen-info.de, war genauso groß wie Jennifer Aniston. Eine Auskunft, wie gemalt für diese Aufführung.