Die Provokation des Nihilisten
Fragen aller Art, existenzielle Fragen vor allem, dringen über Lautsprecher in den Raum, als die Zuschauer noch nach ihren Plätzen suchen. Dann geht das Licht aus, und Pierre Anthon macht sich frei. „Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden“, steht in roten Lettern auf seinem nackten Rücken. Intellektuelle Gedanken und Erkenntnisse brüllt er beschwörend, ja: alptraumartig ins Mikro. Dann zieht er sich zurück in den Pflaumenbaum. Ganz links wird er hocken, fast schon außer Sichtweite.
Pierre Anthon hat das Desaster ausgelöst, dessen Entwicklung wir in den folgenden 90 Minuten am Schauspiel Essen verfolgen. Er hat seine Mitschüler, die gerade in die Klasse 7 versetzt wurden und sich in ihrer kindlich überschaubaren Welt in Sicherheit wiegen, aufgeweckt und provoziert: „Nichts bedeutet irgendetwas in unserem Leben.“ Er konfrontiert sie mit seinem nihilistischen, kalt analytischen Weltbild. Und wenn nichts etwas bedeutet und alles Streben sinnlos ist, kann man ja auch gleich die Schule verlassen und für den Rest seines Lebens Pflaumenkerne spucken.
Die dänische Autorin Janne Teller hat den Jugendroman, der auch für Erwachsene ein so faszinierendes wie verstörendes Lese-Erlebnis ist, im Jahre 1999 geschrieben. Es ist eine Gedankenreise, die Jugendliche in die Welt des Existenzialismus entführt. Lehrer und Geistliche protestierten gegen das Buch; zunächst wurde es zum Gebrauch in Schulen verboten. Zu vernichtend, zu düster sei sein Inhalt; die zarten Seelen der Jugendlichen könnten Schaden nehmen. Die spielten derweil im heimischen Kinderzimmer World of Warcraft oder Sniper. Zehn Jahre dauerte es, bis dass das Buch in deutscher Übersetzung erschien. Mittlerweile ist es ein Welthit, ist es Schullektüre, ist es Abiturstoff in Dänemark. Eltern und Schüler sind begeistert – und wegen der Skandal-Historie hat es den erfreulichen Nebeneffekt, dass es wohl so häufig wie kein zweites Buch von Eltern und Kindern gemeinsam gelesen und diskutiert wird.
Pierre Anthon ist clever, er ist intelligent – bei Tobias Roth am Schauspiel Essen ist er bisweilen auch selbstverliebt und arrogant. Das Schlimme ist: Seine Argumente sind für den zum Skeptizismus neigenden Erwachsenen nachvollziehbar. Seine Konsequenz, wenn nichts etwas bedeute, sei es besser, nichts zu tun als etwas zu tun, vielleicht nicht – aber es steckt eine radikale Logik darin. Pierre Anthons Mitschüler jedenfalls fühlen sich von dessen altklugen und existenzialistischen Reden in ihren Grundfesten erschüttert: in ihrem Glauben an den Sinn des Lebens, an die Wichtigkeit des Handelns, an moralische und ethische Grundsätze. „Wir wollten nicht in der Welt leben, von der uns Pierre Anthon erzählte. Aus uns sollte etwas werden, wir wollten jemand werden.“ Sie beschließen, sich zu wehren. Hilflos zunächst, aber ein Blick auf radikalfundamentalistische Gottesstaaten zeigt uns, wie naheliegend ihre erste Lösung ist: „Steinewerfen“ auf den im Baum sitzenden Provokateur. „Die Idee an sich war gut … Wir hatten sonst keine.“
Steinewerfen und Prügeln ist eine Kinderlösung; es ist die Lösung derer, denen Argumente fehlen. Nützen wird das bei Pierre Anthon nicht. Bald findet man eine intellektuellere Möglichkeit, diesen von seinem Irrweg zu überzeugen. Ein „Berg aus Bedeutung“ entsteht, bestehend aus all den Dingen, von denen die Kinder sich nur unter Schmerzen trennen – weil sie für den individuellen Spender wichtig sind. Das beginnt harmlos. Doch auch das endet radikal. Es endet fundamentalistisch. Es endet im Fanatismus. Und für Sofie in der Irrenanstalt.
Karsten Dahlem und Andreas Erdmann haben in der in Essen gespielten Bühnenfassung die 21 Schüler, die Pierre Anthon von seinem nihilistischen Irrweg abbringen wollen, auf fünf Schauspieler reduziert. Da ist Jan-Johan, bei Johann David Talinski ein etwas flippiger, sympathischer Alternativer, ein Gitarrespieler mit verkehrt herum aufgesetztem Käppi. Er liebt Sofie, die Floriane Kleinpaß zunächst als blasse Mitläuferin bei der Bedeutungssuche gibt – turtelnd erwärmen Talinski und Kleinpaß unser Herz. Da ist die blonde Schönheit Rosa (Elisabeth Wolle), die mit dem Publikum spielt, und da ist Agnes: Die grandiose Elisabeth Müller lässt das positiv denkende Mädchen an der Schwelle zwischen Kindheit und Pubertät zunächst mit minimalen Veränderungen von Mimik, Gestik und Sprachmodulation von jugendlicher Selbstgewissheit zu zögerlicher Verwunderung bis zu Verunsicherung wechseln. Und da ist der eher biedere Kai des David Simon, pragmatisch, aber tief verwurzelt im christlichen Glauben, der später das wichtigste Symbol für seinen Glauben auf dem zum Fetisch werdenden Berg der Bedeutung opfern wird.
Die positiv denkenden jugendlichen Figuren werden sich im Laufe des Abends verändern. Gnadenlos fordern sie immer brutalere Opfer, deren Bedeutung am Grad des Schmerzes, den sie verursachen, gemessen wird; die Verletzung, die die Hingabe des jeweils wichtigsten Gegenstandes hervorgerufen hat, gebiert Fanatismus und Brutalität. Agnes und Sofie steigern sich in einen Rausch, stampfen und skandieren wie Hooligans; David Simon, der Darsteller des gläubigen Kai ist es, der Sofie die Unschuld stiehlt, um das Monument der Bedeutung um ein blutiges Tuch zu bereichern. Spätestens diese existenzielle Vergewaltigungs-Erfahrung verändert Sofie: eiskalt schlägt das brave, zarte Mädchen dem Hund den Kopf ab und fügt ihn dem „Berg der Bedeutung“ als Trophäe hinzu; mit entschlossenem Gesicht wirkt sie an der Exhumierung des Kindersargs von Elises kleinem Bruder mit; mit irrem Blick fordert sie den Zeigefinger des Gitarristen Jan Johan – Freundschaften zählen nicht mehr. Die kokette Rosa weint, scheint irre zu werden an ihren Erlebnissen. Ganz individuell demonstrieren die brillianten Schauspieler, dass die Jugendlichen spüren: „Da stimmt etwas nicht“: fanatisch, verzweifelt, verunsichert, ängstlich oder irre. Voller Zynismus. Und am Ende: desillusioniert, leer. Das junge Ensemble spielt mit mitreißender Intensität und Glaubwürdigkeit.
Tatsächlich haben Regisseur Karsten Dahlem und sein Team sich nicht auf die Lakonie des Romans, auf dessen geradezu klinische Reinheit und dessen parabelhafte Atmosphäre eingelassen, sondern sie spielen, dem Medium Theater gerecht werdend, Emotionen aus – mit viel Phantasie, aber stets jugendfrei, ohne allzu krasse Bilder. Die bereits durch die Schauspieler transportierte Intensität wird gesteigert durch eine perfekte musikalische Struktur der Erzählweise: wechselnde Erzähler, Kommentare aus dem Pflaumenbaum, Dialoge, Lieder, Musik, ein exzellentes Sound-Design, konzentrierte Nachdenklichkeit und sich überlagernde Gleichzeitigkeit, laute und leise Momente, Flüstern, Stille und Dynamik verbinden sich zu einer wirkungsmächtigen Partitur.
Am Ende lodert das Feuer. Pierre Anthon ist darin umgekommen. „Wenn Sterben so leicht ist, dann deshalb, weil der Tod keine Bedeutung hat“, hatte er aus dem Pflaumenbaum doziert. „Und wenn der Tod keine Bedeutung hat, dann deshalb, weil das Leben keine Bedeutung hat. Aber amüsiert euch gut!“ Essener Bürger kommen im Abspann zu Wort – mit den Aussagen, was für sie persönlich von Bedeutung ist. Banales ist dabei, Wichtiges auch. Dinge, die Glück und Freude bereiten – Familie oder eine Tüte Chips. Dem Leben einen Sinn zu geben, dürfte ebenfalls Bedeutung haben. Falls danach nicht Schlaf, sondern Skelett kommt: wen kümmert’s dann noch?