Übrigens …

Die Glasmenagerie im Köln, Schauspiel

Mit Cheerleader-Puscheln

„Nimm mich mit nach Tennessee“, ruft Anja Laïs in der Rolle der Amanda Wingfield. Es lässt sich trefflich streiten, ob Regisseur Sebastian Kreyer das Publikum an diesem Abend im Kölner Schauspiel mitnimmt zu Tennessee Williams oder eher von ihm weg führt. Und ob gerade Anja Laïs oder Amanda Wingfield spricht, ob Orlando Klaus oder Tom Wingfield redet, ist auch nicht immer ganz sicher. Allzu gebrochen sind nicht nur die reichlich demolierten Mitglieder der Familie W.: ständig gebrochen wird auch die Interpretation des Südstaatendramas. Früh ahnt der Theaterfreund: Dies wird ein Abend für Castorf-Fans.

Die Regie lässt das traurige Williams-Stück mit viel guter Laune beginnen. Nebel wabert, Möwen krächzen, Schiffssirenen tuten – und Diskokugeln glänzen: Tom Wingfield, der gegen Ende seinen Seesack schnüren und die Enge der Familie mit der Weite des Meeres tauschen wird, tanzt zu „In the Navy“, während die drei übrigen Figuren des Stückes winkend im Boot hereinrollen. Um erst einmal ordentlich vorgestellt zu werden. Denn das Stück wird – ganz originalgetreu – aus der Erinnerung erzählt. Wie heißt es doch bei Lorca: „Nichts ist lebendiger als die Erinnerung. Schließlich machen Erinnerungen das Leben unmöglich...“

Erinnerungen suchen auch die kaputten Frauen des Kern-Stückes heim. Bei Amanda sind es die siebzehn Verehrer, „alles Pflanzer oder Söhne von Pflanzern“, die sie sich durch die Lappen gehen ließ, um einen mickerigen Telefonisten zu heiraten, der nach einigen Ehejahren rückstandslos verschwand. Bei der schüchternen, schwerbehinderten Laura ist es eher eine verdrängte Erinnerung: an den einzigen Mann, der je ihr Herz entflammte, damals auf der Highschool. An Jim O’Connor, der sich mit einer anderen verlobte. Ihn trifft Laura im zweiten Teil des Stückes wieder – ihr Bruder Tom hat ihn zum Dinner mitgebracht, widerwillig dem Drängen seiner Mutter nachgebend, junge Männer einzuladen, die die in ihrer Schüchternheit gefangene und aus psychischen Gründen zu keiner Berufsausbildung fähige Laura kennenlernen sollen – spätere Versorgungsleistungen nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern dringend erwünscht. Jim ist Kollege von Tom in der Verpackungsfabrik; anders als dieser ist er ehrgeizig, vielseitig interessiert und fortbildungswillig. Mit ungebrochenem Zukunftsglauben bricht er in das desolate Leben der Wingfields ein und wird zur Projektionsfläche für die ungestillten Sehnsüchte aller drei Familienmitglieder. Noch einmal kommen Laura und Jim einander näher, noch einmal wird sich herausstellen, dass Jim O’Connor längst vergeben ist. Das Unglück der Familie scheint festgeschrieben für immer, und Tom macht die Biege. Wie einst sein Vater.

Das im Jahre 1944 uraufgeführte Stück (deutschsprachige Erstaufführung 1946 in Basel) erscheint heute ein wenig verstaubt. Sebastian Kreyer begegnet der Gefahr des Staubhustens durch Verfremdung und permanenten Stimmungswechsel. Berührende Szenen wechseln mit Comic-Elementen ab, eine Art US-Schlager-Parade, zu der insbesondere Orlando Klaus und Carlo Ljubek ihre beeindruckenden tänzerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen können, durchweht die Aufführung; immer wieder treten die Schauspieler aus ihren Rollen heraus und machen klar: Wir spielen nur, dass wir spielen. Manchmal haben diese unterhaltenden Show-Elemente einen engen Bezug zur Interpretation: Wenn die Schauspieler zu Dolly Partons „Working 9 to 5“ tanzen, fegt Tom wie ein Dilldopp über die Bühne und schleppt munter Verpackungsfabrikkisten durch die Expo-Halle; Amanda wirkt dagegen mühseliger und beladener, während Laura mit der Taschenlampe nach Orientierung sucht, zusammengesunken, depressiv. Dann wieder sind die Brüche einfach nur Trash: Die Souffleuse Christiane Sundermann schlägt in hinreißender Absurdität den Text von vor einigen Tagen vor: „Der Kirschgarten ist verkauft.

Die Tatsache, dass es sich schon bei Williams‘ Original um ein „Spiel der Erinnerungen“ handelt, macht solche übergangslosen Wechsel zwischen erzählter Geschichte und realer Theatersituation theoretisch plausibel; der Berliner Volksbühnen-Stil, an dem sich Kreyer orientiert, erscheint jedoch heute ein wenig abgelutscht. Schon das Bühnenbild, ein riesiges amerikanisches Wohnmobil, erinnert an die Container der Castorf-Aufführungen – dankenswerterweise lässt Kreyer aber kaum innerhalb des gigantischen RVs spielen, sondern er nutzt dieses eher als Umkleidekabine für die zahlreichen Kostümwechsel. Dennoch adaptiert die Inszenierung nicht nur die unterhaltsamen Castorf-Marotten, sondern sie weist auch die typischen Schwächen von dessen Inszenierungen auf: Ihr fehlt Timing und Zeitmanagement; dem Rhythmus der Szenen- und Stimmungswechsel geht jede Musikalität ab; das Misstrauen gegenüber Gefühlen zerstört immer wieder die emotionale Wirkung der Szenen, und viele Albernheiten entbehren jeder dramaturgischen Rechtfertigung.

Dabei sind die Figuren durchaus überzeugend charakterisiert: Mama Amanda gibt die verblühende Schönheit mal als femme fatale, mal als Hexe, aber stets voller Panik vor dem nahenden Alter: mit aufgesetztem Optimismus und unpassend jugendlicher Koketterie, längst seelisch zerstört und immer noch auf der Suche nach dem 19. Verehrer. Wohlmeinend ist sie auf der Suche nach einem Partner für ihre Tochter zum Zwecke der Altersversorgung, doch in jedem ihrer Sätze, in jeder ihrer Bewegungen spürt man ihre Sehnsucht, den Mann für sich selbst zu gewinnen. - Jim O‘Connor wiederum, Toms Verpackungsfreund, ist bei Carlo Ljubek eine Art Rhett Butler für Arme: ein Südstaaten-Hero, ein souveräner, überlegener Womanizer, gutaussehend und braun gebrannt. Mit manch smarter Bewegung auch gegenüber Tom, die bisexuelle Neigungen nahelegt: In Familie Wingfield, so glaubt die Literaturwissenschaft, hat der homosexuelle Tennessee Williams Eigenschaften seiner eigenen Familie verarbeitet, und Tom trägt wohl autobiographische Züge des Dramatikers.

Die Anchor Woman dieser Aufführung, das schauspielerische Highlight und das Identifikationsangebot für die Zuschauer aber ist die 26jährige Marie Rosa Tietjen als Laura. In ihrem Gesicht, in ihren Gesten spielen sich Dramen ab. Laura humpelt gelegentlich, bricht auch schon mal ein, als wenn ihre Beine versagen – aber sie scheint äußerlich unversehrt. Diese Laura ist ein psychischer Krüppel: Sie hat eine ganz, ganz weiche, aber zutiefst beschädigte Seele; sie ist eine junge Frau voller Sehnsüchte, die sie jedoch mit all der ihr noch zur Verfügung stehenden Kraft zu verdrängen sucht. Bei Tietjen gewinnt die schrille, abgedrehte Aufführung intensive, berührende Momente: Die zögerliche Annäherung von Laura und Jim im Spotlight an der Rampe, ihr gemeinsamer Tanz geht uns zu Herzen, und geradezu schmerzhaft berührt uns der Kuss, der bei Laura wider besseres Wissen Hoffnung aufkeimen lässt. „Schau in die Runde und wünsch dir was“, hatte Amanda ihre Tochter schon früh an diesem Abend aufgefordert, und Laura hatte geschaut. Ganz ruhig war es geworden auf dem schrillen Trailer Park vor dem RV. Laura sagt nichts, doch wir sehen: Aschenputtel weiß nicht, was es wünschen soll, und es glaubt nicht, dass jemals einer seiner Wünsche in Erfüllung gehen wird. Und dann breitet Laura ganz langsam und ungläubig die Arme aus, ganz weit, ganz breit.

Es ist die Geste, die wir am Premierentag in der FAZ fanden, auf dem Foto von Trainer Alfred Gislason vom THW Kiel: „Macht Euch groß!“ Marie Rosa Tietjen aber, gefragt nach ihrem Alter, antwortet: „ein Meter sechsundfünfzig“. Diese 1 m 56 lohnen die Reise!