Nass und streng
Wie viele Arbeiten von Matthias Gehrt zeichnet sich auch dieser Kirschgarten durch genau und lückenlos durchgearbeitete Sprache sowie Weglassung sämtlichen Zierrats aus, der vom Kern des Stückes wegführen könnte. So hat Gabriele Trinczek nur wenige Möbel vereinzelt in den ansonsten leeren Raum gestellt, dessen Boden zu großen Teilen mit wenige Zentimeter hoch stehendem Wasser bedeckt ist. Im Wasser ist der Sohn der heimgekehrten Ranevskaja ertrunken. Es hemmt die Schritte aller Beteiligten, sorgt für unsichere Bewegungen, visualisiert, dass viele der Beteiligten den Boden unter den Füßen verloren haben oder ihn zumindest nicht sehen.
Matthias Gehrt bietet einen Tschechow ganz ohne Sentimentalität und charmante Melancholie, einen gleichsam entkernten, ausgebeinten Kirschgarten. Er analysiert die Figuren streng, führt ihre Erbärmlichkeiten gnadenlos vor, lässt keine Begründungen oder Entschuldigungen dafür gelten und rückt Tschechow damit in die Nähe der amerikanischen Dramatiker der Nachkriegszeit wie Edward Albee oder Arthur Miller. Das Ende, der Verkauf von Besitz und Kirschgarten, ist von Anfang an Gewissheit. Die Handlung wird klar vermittelt wie selten – bis in die kleinsten Verästelungen. Gehrt bietet keinen sanften, romantisch aufgelockerten Erzählstrom, sondern einen klar strukturierten Aufbau, dabei unterstützt von der so kraftvoll wie spröden, lapidar poetischen Übertragung von Thomas Brasch.
Die Schauspieler haben – abgesehen vom Text – wenig, womit sie brillieren können. Dennoch beweist das Mönchengladbacher Ensemble an diesem Abend seine Qualität. Paul Steinbach und Cornelius Gebert als Lopachin und Trofimow sind die Pole, zwischen die das Spiel gespannt ist, zwischen denen und um die herum die entwurzelte Gutsbesitzerfamilie kreist. Schwer, einfach, aber nicht einfältig geht Steinbach als Aufsteiger zu Werke, der die Macht des Geldes kennt und respektiert, keine Negativfigur, sondern ein Mann aus dem Leben, der einzige in Tschechows absurdem Figurenarsenal. Dagegen setzt Gebert seinen ewigen Studenten. Dürr, in abgetragenen Cord gewandet, mit strähnigem, dünnem, langem roten Haar, ganz Denker und Philosoph, verbittert und optimistisch gleichzeitig, rückt er die oft misslingende Nebenfigur mitten ins Zentrum.
Eva Spott findet nicht immer den richtigen Ton für die Ranevskaja. Ihre Rollengestaltung ist imposant, aber man mag nicht mit ihr warm werden. Ähnliches gilt für Helen Wendt, die Anjas Naivität schön nach außen kehrt, aber die ganze Zeit unverändert Kind bleibt. Daniel Minetti verleiht der schwierigen Rolle von Ranevskajas Bruder Gaev deutliches Profil, zeigt ihn als eleganten, sanguinischen Trauerkloß. Ganz in Schwarz zeigt Johanna Geißler überzeugend eine hoffnungslos Liebende von der Perspektivlosigkeit ihres Lebens quasi zusammengeschnurrte Varja. Esther Keil als Zirkuskind Charlotte und Joachim Henschke als ewig bettelnder Nachbar gelingen schöne Charakterbilder. Der alte Diener Firs, bei Tschechow eine wichtige Figur, der auch das Ende des Stückes gehört, bleibt in Gestalt von Matthias Oelrich allerdings zu blass.
Von guter Textverständlichkeit wird im Publikum gesprochen, in der Pause und hinterher, von den „armen“ Schauspielern, die immer wieder ins Wasser müssen, von den „heutigen Verhältnissen“, von der Müdigkeit, die es immer wieder neu zu überwinden gilt, und, bemerkenswert häufig, von Griechenland. „Ob das jetzt da wohl so ist? Von der Stimmung, mein‘ ich?“
Das sind deutliche Zeichen von Lebendigkeit von Matthias Gehrts Inszenierung und Tschechows fantastischem Text.