Der ganz normale Wahnsinn
Zu Mustern gewobene schwere goldene Fäden durchziehen einen beigen Stoff: der liegt auf der ganzen Bühne. Eine Bühne, die aussieht wie der Bezug von Urgroßmutters Sofa. Gerade der richtige Nährboden für Prüderie, Heuchelei und falsche Frömmigkeit. Ulrich Leithner schafft dies als Grundlage für Molières Tartuffe, auf der sich Typen tummeln, die eigentlich gar nicht so gestrig sind. Irgendwie eine Familie, deren Zusammensetzung sich über Jahrhunderte nicht geändert hat. Ein besserwisserischer Vater mit von an Arroganz grenzendem Selbstbewusstsein, eine gelangweilte jüngere Stiefmutter, eine zickige Tochter, die durch Kleinmädchengehabe den Vater beeindrucken möchte. Dazu ein cholerisch-miesgelaunter geckenhafter Sohn und ein schlafmütziger Onkel nebst einer moralinsauren Großmutter.
Alle hier schon angelegten Konflikte werden potenziert durch den Schleimer Tartuffe, der eben nur eins will: Besitz! Und der alles dafür tut. Ein ganz modernes Stück also!
Regisseur Martin Schulze inszeniert temporeich und mit viel Aktion. Das kommt gut, da er nie vergisst, Pausen zu machen. Dabei kommt sein Tartuffe nirgends mit erhobenem Zeigefinger daher. Das schafft Grundlage für einen unendlich entspannenden Theaterabend. Es gibt saukomische Situationen en masse, spontanes Kichern, lautes Lachen entladen sich im Publikum – dabei bleibt alle böse Kritik an Bigotterie und Habsucht virulent. Das ist eine ganz feine Mischung aus boulevardesken Zügen und ganz subtiler Gesellschaftsanalyse.
Und die Darsteller tun ihr Bestes, um diesen Ansatz zu vermitteln, haben sichtlich Spaß am Spiel und beweisen Improvisationsgabe. Allein Regine Andratschkes Gesichtsausdruck als Großmutter ist Gold wert. Wie sie die Züge entgleisen lassen kann, das ist so beredt, da braucht’s eigentlich keinen Text. Florian Steffens als Damis und Maike Jüttendonk als Mariane sind einfach eine Plage für ihren Vater Orgon, den Mark Oliver Bögel als den wahren Heuchler zeichnet. Claudia Hübschmann (Elmire) und Aurel Bereuter (Tartuffe) loten in der großen Verführungsszene den Gegensatz von Berechnung und Begierde aus – das ist ganz groß!
Zu den Höhepunkten gehört aber sicher auch der virtuose Tanz des Hausmädchens Dorine mit dem Staubsauger, der die vielen Knoten in der Zunge versinnbildlicht, die Johanna Marx in virtuosem Spiel machen muss.
Gerhard Mohr als verschlafener Cléante und Christoph Rinke als Valère ergänzen ein Ensemble, das zu Hochform auflief.
Einen Großteil zum Erfolg trägt sicherlich die deutsche Fassung von Rainer Kohlmayer bei, der Molières Verse in deutsche Reime überträgt und diese durch gegenwartssprachliche Einsprengsel bricht. Dadurch wird das starre Sprachsystem gebrochen und eine perfekte Lebendigkeit erreicht. So schön kann Theater sein!