Weihnachten beim Kindermörder
Herr Bartsch hat heute Gäste. Herr Bartsch wohnt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung mit Bad und einer abweisenden, kahlen Matratzengruft. Die beiden Wohnräume sind eingerichtet wie sie eben bei einem biederen, etwas spießigen Mann aus einer ärmlichen, aber noch nicht zum Prekariat gehörenden Bevölkerungsschicht im Ruhrgebiet eingerichtet sind: dunkles Holz, ein paar durchgesessene Polstermöbel, röhrende Hirsche, ein gesticktes Bild an der Wand. Für Eiche brutal hat das Geld nicht gereicht.
Herr Bartsch feiert Weihnachten. Die Lichter am Baum brennen, ein Erzgebirge-Nussknacker steht vor uns, seinen Gästen, auf dem Tisch. Herr Bartsch bringt noch einen Teller mit einem Schokoladen-Nikolaus und mit Nüssen herein. Sorgfältig stellt er eine Gruppe kleiner Engel auf; behutsam platziert er eine Heintje-LP auf dem Schrank. Sie erinnern sich: Heintje, der kleine Junge mit dieser süßen, glockenhellen Stimme: Maaama, du sollst doch nicht um deinen Juuuungen weinen… - Herr Bartsch hat auch eine angenehme Stimme. Herr Bartsch ist ein Kindermörder.
Der Bildschirm des alten Röhrenfernsehers zeigt Bilder vom Oberhausener Weihnachtsmarkt. Weihnachtslieder erklingen. Die subjektive Kamera folgt den Blicken einer über den Weihnachtsmarkt schlendernden Person. Es sind suchende Blicke. Mehr und mehr verirrt sich die Person in die abseits des Trubels und der Buden gelegenen Regionen des Marktes. In die dunklen Ecken hinter den Buden. Ins Gebüsch, in die ungepflegten Sträucher. Herr Bartsch ist ein Kindermörder. Herr Bartsch ist ein Pädophiler.
„Als es anfing“, sagt Herr Bartsch, „waren meine Phantasien nur auf das Sehen gerichtet… Ich nahm ihn in den Mund. Ganz. Den Sack und alles. Es war alles so klein.“ Da wird uns kalt im heimeligen weihnachtlichen Wohnzimmer des Herrn Bartsch. - Kalt ist es in diesen Wintertagen allerdings sowieso dort unten im Bunker Ebertstraße schräg gegenüber vom Theater Oberhausen. In diese außergewöhnliche Spielstätte, die perfekt zu der grauenvollen Geschichte passt, die uns Regisseur Martin Kindervater und der Schauspieler Martin Müller-Reisinger in den kommenden sechzig Minuten erzählen werden, hat das Theater die Inszenierung des zwanzig Jahre alten Stücks von Oliver Reese ausgelagert. Es ist eine wahre Geschichte: Es ist die Geschichte des Serienmörders Jürgen Bartsch aus Essen, der bei grausam herzlosen Pflegeeltern in Velbert aufwuchs und im Alter von 15 bis 19 Jahren vier kleine Jungen missbrauchte, sadistisch quälte, tötete und zerstückelte – Letzteres teilweise bei lebendigem Leib. Das jüngste Opfer war 8 Jahre alt, das älteste 13. Sechs Wochen nach der letzten Tat konnte sich das fünfte Opfer befreien. Es führte die Polizei auf die Spur des Mörders.
Jürgen Bartsch hat dem in Deutschland lebenden US-amerikanischen Journalisten Paul Moor in mehr als 250 Briefen seine Lebensgeschichte erzählt. Moor stellte Fragen, häufig mit psychoanalytischem Hintergrund; Moor ging auf Bartsch ein – er war wohl der erste Mensch, der sich jemals für das Seelenleben des jungen Mannes interessierte. Auf der Basis dieses Briefwechsels hat Oliver Reese sein Stück erarbeitet.
Bartsch kam im Alter von elf Monaten in eine Adoptionsfamilie. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wurde er quasi kaserniert und durfte nicht mit anderen Kindern spielen. Seine Adoptivmutter war zeitweise gewalttätig und versuchte andererseits, ihren Sohn in Abhängigkeit von sich zu halten. Im Alter von zehn Jahren kam er in ein Erziehungsheim und Internat. Im katholischen Jungen-Heim in Marienhausen waren Freundschaften zu anderen Kindern verboten – sie seien eine Quelle für Homosexualität, war die Begründung. Bartsch wurde von einem Pater sexuell missbraucht. Wenn eine Lehranstalt zur Züchtung von Homosexualität gesucht wird, so ist Marienhausen das ideale Exemplar, sagt Müller-Reisinger als Bartsch sinngemäß. Bartsch wird zum Jungen, der nicht erwachsen werden wollte: „Ich wollte ein Leben lang kurze Hosen tragen.“ In einer Jugend ohne Liebe, ohne Emotionen, ohne Vorbild und ohne akzeptable Erziehungsmuster, in einer Jugend, in der er stets der Verlierer war, bildete sich der Aggressionsstau, der sich später an seinen minderjährigen, ihm körperlich unterlegenen Opfern entlud – zunächst in einem Hunger nach Sex, dann in brutalstmöglicher, sadistischer Zerstörung von Menschenleben. Der wahre Jürgen Bartsch war eigentlich ganz anders, glaubt er von sich: „Meine Seele war immer voller Liebe und Zärtlichkeit.“
Martin Müller-Reisinger gibt diesen Jürgen Bartsch keineswegs unsympathisch. Er erscheint sogar reflektiert: betroffen über seine Taten, ernst und nachdenklich. Das ungeheuer suggestive Solo des Schauspielers wirft uns in ein Wechselbad zwischen Mitleid und Abscheu, möchten uns die Ohren zuhalten angesichts der detaillierten Schilderungen der sadistischen Vorgänge und empfinden dann wieder fast eine Art Empathie mit dem Mörder. Kindervater bringt einen unheimlich düsteren Text an einem beklemmend düsteren Ort zu einer erschütternden düsteren Aufführung. Ein wenig wird deren Wirkung gemindert, weil Müller-Reisinger in drei verschiedenen Räumen spielen muss, die jeweils nicht von allen Zuschauern einsehbar sind. Das Geschehen aus dem jeweils anderen Wohnraum sowie aus dem ebenfalls nicht von allen Plätzen überschaubaren kahlen dritten Zimmer wird per Video auf den Bildschirm des Fernsehers übertragen, der in beiden Zuschauerräumen steht. Die Mimik des Schauspielers, die kaum wahrnehmbaren Empfindungen, die sein Gesicht zeigt, gehen dadurch natürlich verloren; außerdem ist die Akustik im Bunker suboptimal: die in dem jeweils entferntesten Raum gesprochenen Texte sind nur bei höchster Konzentration zu verstehen. Das sind halt die Kosten dieser Spielstätte, die andererseits wiederum eine klaustrophobische, intensive Atmosphäre vermittelt – man sollte sie ohne Murren in Kauf nehmen.
Martin Müller-Reisinger ist irgendwann einfach verschwunden. Der Applaus für den Kindermörder geht ins Leere. Noch einmal ist das ein beklemmender Moment. - Auch Jürgen Bartsch war irgendwann einfach verschwunden. Im Jahre 1976, als er 29 Jahre alt war, ließ er sich kastrieren, um so einem lebenslangen Aufenthalt in der Psychiatrie zu entgehen. Durch einen Fehler des Anästhesisten kam er bei der Operation ums Leben.