Übrigens …

Hamlet im Schauspielhaus Düsseldorf

Rosenkranz und Güldenstern leben noch

Die Russen kommen mit deutschen Schäferhunden. Sie inspizieren die Tribüne, auf der sich die Massen versammelt haben, um der Ansprache des neuen Königs zu lauschen. Voll besetzt sind die Ränge; ungezählte Statisten hat das Theater aufgeboten. Nur einer fehlt: Prinz Hamlet. „Er schläft und träumt.“ – Er schläft und träumt? Welch bittere Ironie: Rosenkranz und Güldenstern nehmen ihn in den Klammergriff, schütten ihm einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht. Weniger zum Wachwerden denn als Folter. Hamlet taumelt, wie unter Drogen oder Alkohol. Bald wissen wir: Hamlet wird von den beiden sinisteren Gesellen regelmäßig mit Wodka abgefüllt und auf diese Weise ungefährlich gehalten für den neuen Machthaber, der sich durch Mord und Intrige zum ersten Mann im Staat aufgeschwungen hat. Der berichtet seinem Volk von der Bedrohung seines Landes durch Fortinbras. Der Norweger behaupte, es herrsche Chaos im Land, sagt Claudius in seiner Rede vorwurfsvoll. Da lacht das überwiegend russische Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Es versteht die unzähligen politischen Anspielungen, die der Regisseur Valeri Fokin, immerhin Leiter eines der renommiertesten russischen Staatstheater und Mitglied des Rats für Kunst und Kultur des russischen Staatspräsidenten (zum Zeitpunkt der Premiere noch Medwedew), in seine Highspeed-Fassung von Shakespeares berühmtestem Drama eingearbeitet hat. Der Präsident – Verzeihung: König Claudius! - ist von eher mediokrer Intelligenz, hat aber einen gesunden Machterhaltungstrieb und das Gespür für die Zückerchen, die er dem Volk geben muss, um es ruhig zu stellen. Da werden Feste inszeniert, die die Masse bei Laune halten; unliebsame Störer oder Widersacher der Macht werden unbemerkt vom feiernden Plebs unter der Tribüne in den Orkus gekippt. Zuverlässige Charaktere wie Laertes werden zu effeminierten Speichelleckern, und die etwas halbseideneren Gestalten wie Rosenkranz und Güldenstern zu Lakaien eines Überwachungsstaats.

Hamlet ist bei dem großartigen, seine Figur sehr facettenreich anlegenden Dmitri Lysenkow zu Beginn ein Getriebener; er ist weniger der entscheidungsunfähige Zauderer als ein willenlos gemachter Gefangener seines Onkels. „Das Jahrhundert ist aus den Fugen“ – so heißt es in zeitlicher Präzisierung des Shakespeare-Textes in der Übersetzung und Neubearbeitung des russischen Dramatikers Vadim Lewanow. Hamlet schaut das Grauen aus den Augen bei dieser Erkenntnis, aber auch der Irrsinn. Dieser Hamlet scheint zu Beginn tatsächlich verrückt; als zu mystischem Nebel und Donnergrollen der Geist seines Vaters in mittelalterlicher Ritterrüstung erscheint, kann dies auch als Halluzination des unter Rauschmittel gesetzten Sohnes interpretiert werden. Doch diese Erscheinung macht Hamlet nüchtern; dieser Alptraum lässt ihn erwachen. Er sieht sich ausschließlich von Intriganten und opportunistischen Schmeichlern der Macht umgeben, und ab sofort wechselt sich Verzweiflung ab mit: Entschlossenheit. Ganz hamletuntypisch, aber hilfreich, um das monumentale Drama in gut 90 Minuten über die Bühne zu bringen.

Fokin hat das Drama auf das Wesentliche reduziert, ohne dass man wesentliche Elemente vermisst; er hat es sprachlich wie inhaltlich modernisiert und zugespitzt. Ophelia ist von Hamlet schwanger, wird allerdings ansonsten vollständig marginalisiert: Sehr bewusst und brutal bricht Hamlet jede Verbindung zu ihr ab, weil eine Liebesbeziehung oder gar eine Vaterschaft ihm bei der Verfolgung seiner Ziele hinderlich wäre. Auch die Brutalität, mit der Hamlet noch die Leiche des bereits erstochenen Polonius malträtiert, macht den Dänenprinzen nicht gerade sympathisch, sondern offenbart eher psychopathische Züge. Diese Welt ist schlecht, und ob Hamlet sie als König besser machen würde, ist keineswegs entschieden.

Viktor Smirnow gibt dem Polonius eine massige Gestalt im Gewand eines mittelalterlichen Kaufmanns oder Bürgermeisters und eine ruhige, gelassene Skrupellosigkeit, die auch vor der eigenen Tochter nicht halt macht. Gelungen sind die in vielen Inszenierungen so aufgesetzt wirkenden Schauspieler-Szenen mit ihrer „Theater-im-Theater“-Situation, die von Hamlet aus dem Düsseldorfer Publikum heraus verfolgt werden: Per Mikro kommentiert er die Aufführung der Schauspielertruppe, zunächst zauberhaft poetisch, später immer dramatischer. Und ein Geniestreich ist die Bühne von Alexander Borowski – eben die erwähnte riesige Tribüne, auf deren Rückseite und in deren Untergrund wir schauen, während wir durch die Lücken zwischen den verschiedenen Etagen die Auftritte des Königs vor dem Volk beobachten können: Was wir vorn an der Rampe sehen, ist das, was das offizielle Helsingør verbergen möchte.

Konsequent geht die Aufführung zu Ende. Gertrud, der wir noch nie so recht über den Weg getraut haben, sieht sich nach dem Massaker in der Fechtszene auf der Verliererstraße, blickt ihrem Sohn Hamlet unbarmherzig ins Auge und nimmt den Giftbecher – Selbstmord statt versehentlicher Vergiftung, und damit endgültig Klarheit, dass sie von Beginn an Komplizin ihres Gatten war. Fortinbras, der von nun an die Macht übernehmen wird, ist ein Kindersoldat. „Die Leichen entsorgen! Und (spielt) einen Marsch!“, befiehlt er. Vermutlich werden die Leichen nun in den gleichen Orkus unter der Tribüne gekippt wie zuvor die Dissidenten beim Volksfest. Und Rosenkranz und Güldenstern, die das Drama überlebt haben, werden wohl einen neuen Job finden.

Die exzellente Aufführung ist Teil einer langen Reihe von Gastspielen ausländischer Theater, die Düsseldorf seit Dienstantritt des neuen Teams unter dem inzwischen zurückgetretenen Staffan Holm gezeigt hat. Viele von ihnen waren schlecht besucht (der Hamlet dagegen an zwei Abenden nahezu ausverkauft), so dass in der Stadt laut über eine Beendigung der internationalen Aktivitäten des Hauses diskutiert wird. Die meisten dieser Gastspiele waren von exquisiter Qualität. Schande über die Stadt, die sonst völlig zu Unrecht den Ruf des Materialistischen hat, wenn sie nicht den Atem hat, die herausragende Reihe fortzusetzen. Auf lange Sicht wird sich die Qualität herumsprechen.