Reizvoll
Kabale und Liebe ist zur Zeit der absolute Renner auf unseren Bühnen, aktuell im Repertoire zum Beispiel in Essen, Dortmund und Mülheim/Ruhr, demnächst auch in Oberhausen und Bielefeld. Das ist, abgesehen von der unbestreitbaren Qualität des Textes, vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass Schillers Sturm-und-Drang-Reißer in den nächsten beiden Jahren verpflichtender Bestandteil des nordrhein-westfälischen Zentralabiturs sein wird. Tausende von Oberstufenschülern kommen so zu einem unverhofften Theaterbesuch.
Schon der Produktionsort legt nahe, dass Marco Štormans Inszenierung besonders für die Zielgruppe designt ist, die die voll besetzten Ränge der besuchten Vorstellung zu mindestens 90 Prozent füllt. Philipp Nicolai hat eine Art Indoor-Abenteuer-Spielplatz auf zwei Ebenen in den Raum gesetzt. Jede Figur hat hier ihren Rückzugs- und Beobachtungsort, Wurm etwa ein kleines Büro, der Präsident einen großen Schreibtisch und Luise ein gelbes Igluzelt. Von Beginn an hält Štorman das Tempo hoch, fordert seinen Schauspielern viel Bewegung und noch mehr Posen ab, eine Art Stop-Motion-Verfahren, dass eine hohe Grundversorgung mit optischen, akustischen und in schönen Momenten auch geistigen Reizen garantiert. Dabei verzahnt der Regisseur immer wieder Szenen, schiebt sie ineinander und lässt sie parallel agieren, geht generell frei mit Textgestalt und Figurenkonstellation um. Štorman gewinnt schillernde Bilder und Momente, besonders stark etwa in der Begegnung von Luise mit der Lady Milford oder in der Deutung des Hofmarschalls von Kalb, bei Emre Aksizoglu ein harmlos-charmanter Partylöwe und –zauberer. Auch der Verzicht auf die Figur der Mutter funktioniert, die Beziehung zwischen Luise und ihrem Vater (Alexander Steindorf) gelingt direkt und intensiv. Leider werden, trotz durchweg hervorragenden Sprechens, durch das Aufbrechen von Schillers stringentem und sehr dramatischem Raum-Zeit-Aufbau die an sich gesellschaftlich definierten Beziehungen zwischen den Figuren schwammiger und die Handlungsmotivationen unklarer.
So geraten die Charaktere teilweise in Gegensatz zu ihrem Text. Der Ferdinand von Moritz Löwe ist ein überbordend charmanter Springinsfeld, der durch die Intrige aus allen Träumen gerissen wird und kein gebildeter, vergrübelter junger Mann, der in Luise ein Ideal sieht, gerade weil sie als Bürgermädchen keinen Adelszwängen unterliegt. Im Gegensatz hierzu wird aus der einfachen, frommen, im Handlungsverlauf immer stärker werdenden Luise bei Mareike Beykirch von Anfang an eine schlagfertige, widerspenstige Intellektuelle. Beide spielen ihre Rollen begeisternd, können ihre Figuren aber letztlich nur vorzeigen. Moritz Führmann gibt einen nöligen, überraschend jugendlichen Präsidenten, der das alle bedrohende System nicht wirklich verkörpert. Marian Kindermann, sehr gut aussehend für einen Wurm, bleibt eine Spur blass, wie auch Simin Soraya als Milford, deren große Erzählung gleichwohl einen Höhepunkt des Abends – und der Publikumskonzentration – markiert. Und die berühmte Limonadenszene? Wird weiträumig umfahren! Schon zu Beginn füllt der Hofmarschall einen Getränkeautomaten auf, aus dem sich in der Folge die handelnden Personen immer wieder bedienen. So wirkt die Einleitung des Paartodes nicht als experimentelles Handlungstheater auf der Messerklinge zwischen Tragik und Kitsch, sondern – normal.
Das junge Publikum, aus dem überdurchschnittlich viel und stets an der Bühne direkt vorbei aufs Klo gegangen wurde, verfolgt das Geschehen über weite Strecken konzentriert und scheint immer dann gefesselt, wenn in Monolog oder dichter Duo-Szene die Figuren ihr Inneres offenbaren. Die sicher gesetzten szenischen Pointen werden erkannt und goutiert. Wenn sich aber zu viel gleichzeitig ereignet, driftet die Aufmerksamkeit schon mal weg und löst sich in Flüstereien auf. Alle Schauspieler werden am Ende enthusiastisch gefeiert.