Sie singen nicht mehr
Christoph Marthaler, einer der wesentlichen Theatererfinder der letzten zwanzig Jahre hat noch nie in Nordrhein-Westfalen inszeniert. So reagiert das Publikum auf ihn, wie es damals in Hamburg und Berlin reagierte: Es tut sich schwer. Marthalers Theater bietet wohl starke Atmosphäre und liebevoll und tiefgründig ausgefüllte Situation, aber keine Geschichte, keine Entwicklung. Er verzichtet völlig auf vordergründige Dynamik zu Gunsten eines mählich fließenden, schlank mäandernden Flusses, dessen Details bis hin zum Tropfen ohne Eile untersucht, oft auch liebkost werden.
Und Marthaler ist älter geworden. Sein Thema hat sich nicht geändert. Das ist der einsame Mensch innerhalb der Sozialgemeinschaft. Sein Theater schon. Als er begann, ging er mit großen Themen um, mit „Faust“ oder „Europa“, und in den raren Momenten von sprachloser Gemeinschaftlichkeit auf der Bühne ließ er seine Schauspieler engelsrein singen. Jetzt wird an einer Stelle ein wenig gepfiffen, an einer Stelle ein Weihnachtslied verzerrt, sonst muss der Zuschauer in der Stille jene kleinen Momente des Zusammenseins, die Marthalers Arbeit so besonders machen, selber aufspüren. Sie sind kaum mehr markiert.
Christoph Marthaler inszeniert einen dem Leben von seiner Frau Sasha Rau klug abgelauschten Text. Oh, it’s like home ist ein poetisches Gespinst aus Surrealistischem und Symbolistischem, ergänzt um wenige Kalauerkaskaden, die Skizze eines postdramatischen Sozialdramas. Duri Bischoffs Bühnenraum nimmt sich zu den hochherrschaftlich verfallenen Vestibülen von Anna Viebrock, in denen Marthalers Theater so lange stattfand, aus wie ein armer, aber selbstbewusster Verwandter. Es ist ein von Menschen benutzter, nicht bewohnter Raum, gefliest, mit sachlichen, günstigen Holzmöbeln, der Flur eines Gästehauses oder Pflegeheims. Vier Menschen bevölkern diesen Raum immer wieder aneinander vorbei. Gespräche finden selten statt, Berührungen immer verlegen und zärtlich. Sie sind alt, merkwürdig oder alt und merkwürdig. Sie sind determiniert durch das, was war und verstört durch das, was ist, heimatlos zuhause. Rituale werden durchkonjugiert, in Wort und/oder Spiel: Weihnachten, Geburtstag, Familienfest, Arbeit. Sie sind nichts als Mühsal, stören die Träume und das zarte Pflänzchen Verständigung, helfen gar nichts. Neben vielem ist dieser Abend auch entschlossener Kommentar zur demographischen Situation.
Die Schauspieler sind wunderbar. Sasha Rau selbst, lang, kerzengrade, ätherisch und doch verwurzelt, mit einer Frage in jedem Wort und einem Lächeln wie eine Bahnschranke, die urgesunde, so timingstarke Bettina Stucky und, beide langjährige Marthaler-Schauspieler, Josef Ostendorf, wieder einmal als unförmiger, trauriger Clown in Spießer-Maske, nur diesmal noch leiser als sonst. Diesmal hat sein Leiden einen ganz dünnen doppelten Boden. Die vierte im Bunde ist Silvia Fenz.
Timeout. Ich habe sie als Halbwüchsiger spielen sehen und nicht vergessen. Wie schön sie ist, 35 Jahre danach, erstmals wieder erlebt. Und immer hat sie etwas elfenhaft Leichtes – und etwas hingebungsvoll Ernsthaftes, etwa, wenn sie Josef Ostendorf in den Mantel helfen will und ihn am Ende selber an hat – und etwas Schelmisches, freundlich aber nicht harmlos. Klein, mit diesem selbstgenügsamen Lächeln steht sie unter einer Hängelampe, mit diesem überdimensionierten Chanel-Hut, diesem deformierten dreidimensionalen Heiligenschein wie zu einer Skulptur verbunden. So träumt sie von Wien, ihrer Stadt, und manchmal, momentweise, tanzt sie zur Musik des wunderbaren mitspielenden Pianisten Bendix Dethleffsen. Leidenschaftliches, elegant hingetupftes Sekundenballett zum ewig Zuschauen. Ach! Timein.
Oh, it’s like home hat zweifelsfrei Lücken und Längen. Aber diese sind Marthalers Theater eingeschrieben. Die Schrankwand bewegt sich dauernd hin und her „und die Wolken wehen immer von der Heimat her.“ Da muss man durch als Zuschauer und sich seinen Sinn, sein Zentrum selber suchen. Wer das tut, erlebt einen total paradoxen Abend, leichtfüßig und schwerblütig, packend und langatmig, eine einzigartige Etüde über die Schönheit und Einsamkeit des Menschen. Wir Kölner müssen Karin Beier dankbar sein, dass es ihr nach vielen Jahren gelungen ist, Marthaler an den Rhein zu holen.