Nichts als die Wahrheit
Im Kreise seiner Lieben will Helge Klingenfeld-Hansen seinen 60. Geburtstag feiern. Alle sind auf den Landsitz der Familie gekommen: Freunde und Familie. Dazu gehören natürlich auch seine Kinder. Christian, Inhaber eines Restaurants in Paris, Helene mit ihrem neuen Freund Gbatoka und der jüngste Sohn Michael mit Frau Mette und Tochter Dorte. Nur eine fehlt: Tochter Linda, Christians Zwillingsschwester, hat sich vor wenigen Monaten das Leben genommen.
Doch jetzt soll gefeiert werden, ein rauschendes Fest mit Musik, gutem Essen und Wein. Und wie immer gibt es da ein paar Spielregeln, so der Toastmaster Helmut, und er erteilt den Gästen das Wort. Christian hat gleich zwei Ansprachen vorbereitet und der Vater kann wählen, welche er hören will, die im grünen oder die im gelben Umschlag. Er entscheidet sich für grün. „Eine interessante Entscheidung“, findet Christian, denn dieses Kuvert enthält „eine Art Wahrheitsrede“. Sie berichtet vom jahrelangen sexuellen Missbrauch der Zwillinge durch ihren Vater und gipfelt in Christians Anklage, Helge hätte seine Tochter in den Selbstmord getrieben („Auf den Mann, der meine Schwester umgebracht hat. Skåll auf einen Mörder!“),
Helge leugnet, Mutter Else ist entsetzt und die Gäste protestieren empört gegen Christians skandalösen Auftritt. Niemand will ihm glauben. Dennoch: alte Wunden brechen auf, die Stimmung ist explosiv. Helene entdeckt einen Abschiedsbrief ihrer toten Schwester, der Klarheit verschaffen könnte. Christian wird von seinem Jugendfreund Kim, Koch des Hauses, an der Abreise gehindert und ermutigt, seine Sache durchzustehen.
Das Fest, als Film von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov, erregte 1998 Aufsehen – als erste Verfilmung auf der Grundlage des dänischen DOGMA 95-Manifestes, das die beiden Regisseure mit unterzeichnet hatten. Als oberste Maxime galt die absolute Authentizität, die Rückkehr zum Naturalismus zum Beispiel. Dreh nur an Originalschauplätzen, die alleinige Verwendung von Handkameras, keine optische Bearbeitung, kein Kunstlicht.
Das Fest wurde erfolgreich für die Bühne adaptiert. Anläßlich der Inszenierung von Kay Voges in Dortmund wurde das DOGMA 2013 aus der Taufe gehoben. Ziel: unter anderem Zerstörung der Illusionen, Dreharbeiten nur vor den Augen der Zuschauer.
Zu Beginn hören wir bayerische Blasmusik. Eine automatische Kamera fährt an einem Schienengerüst über der Bühne im Kreis und filmt die Handlung. Alles wird auf einen vor der Bühne hängenden transparenten Schleier projiziert – Kino im/auf dem Theater – und man sieht zugleich die Schauspieler hinten auf der Bühne, wie sie gerade gefilmt werden oder wie sie Requisiten und Kulissen hin- und hertragen. Voges hat sich manches einfallen lassen, was zunächst irritiert und an Kindertheater erinnert, so ein Auto aus Pappe, wie auch Wolken und Sonne – aber warum nicht?
Der Abend fängt locker-fröhlich an, so machen diese Requisiten Sinn. Auch die Pappteller, die von der Bedienung rot angepinselt werden, wenn bei dem Festmahl eine Suppe aufgetragen wird – sie passen ins Bild. Ist doch alles in dieser Familie mehr Schein als Sein, die glückliche Fassade schon längst unterhöhlt. Feierpassagen, in denen bemüht um gute Laune gerungen wird, in denen immer wieder Ich liebe das Leben von Andrea Berg gesungen wird, wechseln ab mit düsteren Momenten, voller Schmerz und Aggression, die den Zuschauer zutiefst berühren. Wie sagt Helenes Freund so richtig: „So let some demons loose tonight“. Und wenn ab und an der Schleier verschwindet, trifft einen die grausame Realität umso mehr. Hervorragend das Ensemble, allen voran Sebastian Kuschmann als zutiefst verletzter Mensch, der alle Kraft aufbieten muss, um den Vater endlich zur Rede zu stellen. Gerade in den Großaufnahmen zeigt sich sein innerer Konflikt eindringlich. Andreas Beck ist großartig als Helge, ein dominanter, selbstherrlicher Familienpatriarch, der erst spät seine Schuld eingesteht. Björn Gabriel überzeugt als Michael, immer der Versager der Familie und deshalb umso mehr um des Vaters Wohlwollen bemüht. Umso drastischer sein entfesseltes Einprügeln auf Helge, nachdem Helene Lindas Brief vorgelesen hat und damit letzte Zweifel an dem zunächst Unfassbaren ausgeräumt hat.
Vinterberg dringt Schicht für Schicht immer mehr vor, enthüllt nach und nach die schreckliche Wahrheit. Inzest, so oft er vorkommt, ist immer noch allzu oft ein Tabuthema, das selten diskutiert wird. Ein Verbrechen, das äußerlich keine sichtbaren Spuren hinterläßt, was es den Opfern schwer macht, gehört und verstanden zu werden .
All dies setzte Voges in seiner Inszenierung brillant um. Ein Abend, der zutiefst erschüttert und berührt.
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