Übrigens …

Felix Krull – Episoden aus dem Leben eines Hochstaplers im Schauspielhaus Düsseldorf

Mein Ascenseur steht draußen

Die Beziehung zwischen dem Düsseldorfer Schauspielhaus und seinem Publikum gleicht derzeit einer Ehe in einer tiefen Krise. Freunde, die sympathisierend auf das Paar schauen, finden beide nett, intelligent und kompetent – aber die Partner vertragen sich nicht. Das Vertrauensverhältnis scheint zerstört; egal, was die einstmals dominante Ehehälfte (also das Schauspielhaus) tut – die andere (also das Publikum) nimmt’s übel. Die Logik dieses Streits zweier anspruchsvoller Partner erschließt sich, wenn überhaupt, nur mühsam. Aber gestern war ja Valentinstag: Zeit für große und kleine Gesten und fürs Hintanstellen des eigenen Egos. Felix Krull geriet zur großen Versöhnungsgeste. Moritz Führmann als Armand – so nennt sich der Liftboy Felix im Hotel St. James and Albany - stand schon am Eingang zum Zuschauerraum und riss die Tickets ab. Charmant, wenn auch ohne wie weiland in Paris mit zart angedeuteter Erotik die Arme der attraktiven Damen zu ergreifen und sie in Richtung ihrer Plätze zu geleiten.

Den Felix Krull hatte das Düsseldorfer Ensemble-Mitglied Moritz Führmann schon längere Zeit als Lesung im Repertoire. Führmann ist ein begnadeter „Vorleser“ und Interpret von Prosatexten aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Thomas Mann, Schnitzler … da bietet er stets gediegene Unterhaltung auf gehobenem Niveau. Streicheleinheiten für das warum auch immer sich verletzt fühlende Düsseldorfer Publikum. Sein Krull war so erfolgreich, dass er sich gemeinsam mit der Hausregisseurin Nora Schlocker entschloss, Szenen aus dem Roman zu einem Theaterabend auszubauen – in einer, wie die den Schlussapplaus bescheiden abwehrende Schlocker betont, „szenischen Einrichtung“. Weiter entfernt war Regietheater selten. Streicheleinheiten also für … siehe oben.

Für den  75minütigen Abend hat sich das Team auf wenige Episoden aus dem umfangreichen Roman beschränkt. Natürlich wird Felix‘ erster Theaterbesuch im Alter von 14 Jahren im Theater Wiesbaden berichtet. Als kleiner, unsicherer, staunender Junge erzählt Führmann von der Begegnung mit dem Sänger Müller-Rosé – „eitel Glanz (ging) von ihm aus“; besonders der „Zylinderhut“ beeindruckt den jungen Mann. Und doch erkennt er den Blender – amüsiert reagiert das Publikum auf die „Wunder des Theaters“, wenn Führmann von den „abscheulichen Pickeln, rot umrändert, mit Eiterköpfen versehen, auch blutend zum Teil“ berichtet, die er beim abgeschminkten, vulgären Müller-Rosé in der Garderobe entdeckt. Krull erkennt, wie leicht die Menschen zu verführen sind, wie sehr sie danach gieren, sich Illusionen hinzugeben. Wie gern sie auf Show und Glanz und Glamour hereinfallen. „Der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt … An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind“, heißt es bei Hölderlin in eigenwilliger Grammatik: Die Begegnung mit Müller-Rosé wird im Roman zu einem Wegweiser für die Hochstapler-Karriere Felix Krulls.

Den Schwerpunkt der Düsseldorfer Inszenierung bilden die Ankunft Felix Krulls im Pariser Hotel St. James and Albany und die erstaunliche Affäre des Liftboys mit der Schriftstellerin Diane Philibert, die er zuvor bestohlen hat. Diane Philibert, die eigentlich Madame Houpflé heißt und die die sexuell und intellektuell unbefriedigte Gattin eines Klosettschüsselfabrikanten ist - ach, Thomas Mann und seine wunderbar sprechenden Namen! Die reinen Fakten der Geschichte sind abenteuerlich und phantasievoll genug, um uns einen Abend lang blendend zu unterhalten. Wie erst, wenn Moritz Führmann das spielt! Großartig spürt er die komödiantischen, ja manchmal geradezu kabarettistischen Momente in Thomas Manns Schelmenroman auf; facettenreich greift er die vielfältigen Parodien des Textes auf: Kongenial überträgt er die elegante, noch im Banalen hochgestochene Sprache Thomas Manns auf die Bühne, mit all ihren verschraubten und verschnörkelten Formulierungen und frankophonen Einsprengseln: „Mein Ascenseur steht draußen…“ Mal mit feinem Spott, mal mit leicht überdrehter Ungeschicklichkeit, mal mit schmeichelnder Überheblichkeit oder Eleganz wickelt er das Publikum ebenso wie die Figuren in seiner Erzählung um den Finger: lebhaft und verschmitzt, ironisch und mokant, in Mimik und Sprache ungeheuer variabel, aber niemals auftrumpfend. Hochstapelnd auch als vorgeblicher „Jongleur der Mehrsprachigkeit“ (Anna Maria Curci): Voller Witz parodiert er den eigenwilligen, etwas trotteligen schweizerischen Hoteldirektor Stürzli; in virtuosen Sprachkaskaden weist er diesem seine (de facto allenfalls rudimentären) Sprachkenntnisse nach: Französisch in übertriebener Eleganz, Englisch mit hochnäsigen Schnörkeln, Italienisch mit Händen und Füßen. Nur der Kroate Stanko gerät Führmann eher zum Tschechen denn zum Kroaten – eine hinreißende Show ist die Nummer mit dem kleinkriminellen Küchenangestellten nichtsdestoweniger. Ein riesiger Spiegel, den Führmann immer wieder balanciert, ist die Metapher für Krulls ausgeprägten Narzissmus.

Trotz gelegentlicher heutiger umgangssprachlicher Einsprengsel behält die Aufführung die typisch Mann’sche Souveränität in der Sprachgestaltung. Häufig werden die Szenen durch Klaus-Lothar Peters live mit einschmeichelnder, manchmal ebenfalls ironisierender Pianomusik begleitet – auch das mit Gelassenheit und liebevollem Witz: Als der Liftboy und die noble Diane sich dem Höhepunkt nähern, steigern sich Führmanns Sprache und Peters‘ Musik zum fortissimo, und ein kurzer Schrei des Pianisten markiert den Orgasmus.

Wann gab es das zuvor schon einmal: einen reinen Schauspielabend, an dem beim Schlussapplaus um Zugabe gebeten wurde? Der sympathische Moritz Führmann erfüllt auch diesen Wunsch: Spontan singt er mit Klaus-Lothar Peters das Lied, das er in seiner ersten Szene intoniert hatte – unvorbereitet und alles andere als textsicher. Die beiden lachen – gerade diese Spontaneität und Improvisation haben noch einmal Erfolg beim Publikum, und den beiden fliegen die Herzen zu. Es war ein charmanter Abend mit einem virtuosen Schauspieler – preiswert in der Produktion und völlig ohne Risiko im Hinblick auf die Rezeption. Hand drauf, liebe Düsseldorfer, beim nächsten Mal applaudieren wir auch wieder an schwierigeren, risikoreicheren Abenden. Es geht wieder aufwärts in der Ehe. Der Ascenseur steht draußen, und die Richtung weist nach oben.