Übrigens …

Amadeus im Neuss, Rheinisches Landestheater

Venusbrüstchen auf Diät

Von einem Rufmord, der die Musikgeschichte durchzieht, berichtet das Programmheft des Rheinischen Landestheaters Neuss. Antonio Salieri der Giftmörder Mozarts? Salieri ein mittelmäßiger Komponist, ein Neider und Intrigant, der Mozart zu verhindern versuchte, wo immer es ging? - Mozarts Witwe Constanze hat seinerzeit Gerüchte über eine feindliche Haltung Salieris zu ihrem Gatten in Umlauf gebracht – 38 Jahre nach Mozarts frühem Tod und vier Jahre nach dem Dahinscheiden des alten Salieri. Alexander Puschkin hat die Gerüchte um einen Giftmord im Jahre 1832 erstmals in einem Einakter verarbeitet, den Rimski-Korsakow im Jahre 1897 zur Oper vertonte. Peter Shaffer scheffelte ein Vermögen mit der intriganten Räuberpistole: Sein Zweiakter Amadeus wurde zum weltweit umjubelten Theatererfolg.

Die mitreißende Uraufführung besorgte der große Peter Hall im November 1979 am National Theatre London mit Paul Scofield in der Hauptrolle des Salieri – sie wanderte später in veränderter Besetzung an den New Yorker Broadway und erreichte mehr als 1000 Aufführungen. Regisseur Heinz Engels hatte, so schien es dem Schreiber dieser Zeilen, die Londoner Inszenierung für gut befunden – seine Düsseldorfer NRW-Erstaufführung mit Stefan Wigger und Bernd Jeschek als großartigem Antagonistenpaar glich der Londoner Fassung wie 2013 ein vorgebliches Bio-Ei dem Ei aus einer Legebatterie. Endgültig drang die Legende vom Intriganten und potentiellen Mörder Salieri in das kollektive Gedächtnis der Musikliebhaber und Cineasten mit Miloš Formans Verfilmung des Shaffer-Stückes im Jahre 1984: Acht Oscars waren der Lohn, u. a. für den „Besten Film“, die „Beste Regie“ und Tom Hulce als Mozart. Und doch war es wie jüngst bei Polanskis Filmfassung von Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“: Der Film war opulent, aber zu glatt - zumindest die Londoner und Düsseldorfer Theaterinszenierungen hinterließen einen deutlich stärkeren Eindruck.

Die Mär um eine angebliche Vergiftung Mozarts ist längst widerlegt, und ein eventuelles Intrigantentum Salieris darf zumindest in Zweifel gezogen werden. Dieser galt als eher freundlicher und hilfsbereiter Förderer junger Komponisten; zu seinen Schülern zählten u. a. Beethoven, Schubert und der junge Liszt. Salieris Werke seien heute zu Unrecht von den Spielplänen der Opern- und Konzerthäuser verschwunden. Erst wenn man dies alles wisse, könne man Shaffers Drama als ein sehr unterhaltsames Stück Theater akzeptieren, erklärte der Neusser Salieri-Darsteller Joachim Berger im Vorfeld der Premiere – seine Distanz zum Stück war unübersehbar. Dabei hatten wir das Stück bislang für ein extraodinarily well-made play gehalten.

Antje Thoms‘ Aufführung in Neuss holt den Kenner der großen Vorbilder von Sir Peter Hall, Heinz Engels und Miloš Forman auf den Boden der Tatsachen: Das Stück ist ganz nett, war aber den 1981er Tony Award als „Best Play“ nicht wert. Dabei berührt es im 2. Teil eine zwar selbstreflexive, aber im Theater nicht häufig genug zu wiederholende Frage für das Verhältnis zwischen Kunst und ihrem Publikum: Darf sich innovative, fortschrittliche Kunst nach dem Publikumsgeschmack richten? Oder treffen nicht Genialität und Modernität eines Künstlers zunächst fast immer auf den Widerstand der Pharisäer? Dieser Aspekt des Stücks ging in den bisherigen Interpretationen des Stücks meist unter, wird aber in Neuss nicht versteckt.

Tatsächlich aber hängt die Wirkungskraft des Stückes ab vom geschickten, gern auch denunziatorisch kontrapunktierenden Einsatz der Salieri- und Mozart-Musik. Und der gelingt in Neuss nur bedingt. Robin Jurmann spielt die Mozart- und Salieri-Kompositionen routiniert und eingängig live auf dem Piano, aber das Instrument wirft nicht die „Netze aus Klängen“ über uns; die „Netze aus Schmerz, die sich über mich legten“, das überwältigende Erkennen des Göttlichen in Mozarts Musik, das taumelnde Verlangen, das Salieri erfasst, bleibt uns fern. Es sind Netze, in denen Salieri sich verheddert, die ihn in seiner eigenen Entfaltung lähmen und die in London und Düsseldorf kongenial in der – erheblich bombastischeren – Musik wiedergegeben wurden. Wenn Mozart in Neuss den biederen Willkommensmarsch Salieris mit geradezu übernatürlicher Virtuosität in Windeseile zum „Non più andrai“ aus „Figaros Hochzeit“ umarbeitet, dann spürt zwar auch der Laie, welcher musikalische Quantensprung hier gerade vollzogen wird, aber der Bruch zwischen zwei unterschiedlichen Musikauffassungen und der krasse Qualitätsunterschied, der das feindliche Verhältnis Salieris zu Mozart beglaubigen könnte, wird zu harmonisch überspielt.

Unterhaltsam allerdings ist das allemal. Es wäre nicht fair, die Scofield-Wigger-Jeschek-Combo in den Wettkampf mit dem Ensemble des Rheinischen Landestheaters zu schicken, aber der 27jährige Jonathan Schimmer gibt den albernen hyperaktiven Kindskopf Wolfgang Amadé überzeugend - überzeugend, nicht sympathisch: Exhibitionistisch ist diese Rolle angelegt, im sozialen Kontext wenig sensibel, albern und zotig. Wer das als störend empfindet, der lese Mozarts Briefe an sein „Bäsle Häsle“ – Peter Shaffer hat in seiner Charakterisierung kaum übertrieben. Jonathan Schimmer findet eine perfekte Balance zwischen dem naiven genialischen Musenkind und dem affig infantilen, respektlosen Dauer-Pubi. Die frappierende Beweglichkeit und Eleganz, mit der er abwechselnd Kompositeur und Kaiser, Constanze und Klavier bespringt, ist bezaubernd; die Ausstatterin Ivonne Theodora Storm hat ein kongeniales Kostüm mit ärmelloser schwarzer Kutte für ihn gefunden, das gleichermaßen die Eleganz des engelgleichen Genies des 18. Jahrhunderts und das Outfit des heutigen Hells Angel Rockers zitiert.

Joachim Berger schultert als Salieri die umfangreichste und schwierigste Rolle. Er spielt den alternden, hinfälligen Menschen, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, den jungen, ungeschickten Möchtegern-Verführer Constanzes, den mal hasserfüllten, meist nur neidischen Bewunderer des jungen Mozarts, den Widerstreit zwischen skrupelloser Verteidigung der eigenen Bedeutung und Liebe zur Musik, für deren Weiterentwicklung der junge Rivale steht. Den Mann, der hin- und hergerissen ist zwischen seinen Trieben und seiner prüden Lebensauffassung, dessen Laster im Gegensatz zum sexuell aktiven Mozart sich auf Veroneser Gebäck und Venusbrüstchen aus Marzipan und Rosenwasser beschränken. Berger zieht sich angesichts der vielfältigen Anforderungen an diese Rolle beachtlich aus der Affäre; allerdings fehlt ihm das Dämonische, das Finlay damals auszeichnete; auch das Intrigante und das Spießige nimmt man ihm nicht über die gesamte Dauer der Aufführung ab.

Als Venticelli eifern Georg Strohbach und Henning Strübbe heutigen Interpretationen von Rosenkranz und Güldenstern nach, den intriganten, schmierigen Wegbegleitern Hamlets. Den beiden in dieser Inszenierung in hohem Tempo ihre Rollen wechselnden Schauspielern gelingen zudem wunderbare Miniaturen als näselnder Kammerherrn (Strohbach) oder als Kaisers Joseph II., den Henning Strübbe ebenfalls als kindlichen Luftikus gibt, der ständig mit der Konfetti-Pistole herumfuchtelt und „Feste und Feuerwerk“ fordert.

 Exakt das fehlt der Inszenierung ein wenig: Feste und Feuerwerk. Das Stück, das in der zweiten Hälfte ein wenig stringenter wirkt, ist, wenn man es nach 32 Jahren wiederliest, ein ziemlicher Schinken – man staunt über die eigene positive Erinnerung. Es verlangt nach ein wenig Pomp in der Musik und nach kräftigen Zutaten in der Schauspielerei, handelt es sich doch um ein Boulevard-Stück und nicht um feingeistige schöne Literatur. Der Schinken muss kräftig gewürzt werden, und das Veroneser Biskuit verträgt eine üppige Extra-Portion Puderzucker. Konditorin Antje Thoms hat die Venusbrüstchen ein bisschen auf Diät getrimmt, aber das Neusser Publikum war’s zufrieden: Langer Applaus für ein unterhaltsames Spiel, in dem jedoch manche Chance vertan wurde.