Magisch
Großer Theaterabend am kleinen Aachener Theater. Die Parabel um die Prostituierte Shen Te, die ein modellhaft guter Mensch sein soll und sich, um dieses Leben zu bestehen, einen materialistischen Vetter erfindet, erwacht furios zu neuem Leben. Bernadette Sonnenbichler hat einen schnörkellosen und intensiven Brecht inszeniert, mit der nötigen Distanz, aber viel Energie und Gefühlskraft – und vor allem ohne diese laute, pseudointellektuelle Dekonstruktionsschwurbelei, mit der uns der Autor gerne als „überlebt“ verkauft wird.
Jens Burde hat eine coole Location gebaut, eine Mischung aus Theaterlabor, Probenkeller und Wohnzimmer mit Wörtern an den Wänden, herangezoomt wie unter dem Vergrößerungsglas, übergroß auf die Vorbühne verlängert. Die Schauspieler tragen heutige, vorwiegend schwarze Kostüme. Tanja Kramberger hat viele wunderbare Details, die Figuren mitentwickelnde Details erfunden und lässt immer wieder ein wenig Blau auftauchen - Himmel, Sehnsucht, Götter, Bänkerhemden? Sonnenbichler hat den Text hier und da aufgebrochen und modernisiert, teilweise auch Texte dazu genommen, die sämtlich Informationen und Haltungen zu Welt- und Gesellschaftspolitik liefern. Das wirkt in keinem Moment penetrant. Eher verlängert es gleichsam das Stück ins Jetzt. Brecht springt wie ein Schachtelteufel aus der Schublade des zeitgebundenen, sprachmächtigen, linken Agitators mit der verengten Perspektive und wir erkennen den Theatermagier mit seiner Sehnsucht nach dem Guten und der Freundlichkeit. Wir sehen, dass da einer sehr viel über Menschen gewusst haben muss, wenn er solche Vorgänge beschreibt, wenn er diese in allen Farben schillernde, egoistische Niedertracht immer wieder auf die Bühne stellt, die tatsächlich aus subjektiver oder objektiver materieller Not geboren wird. Das lässt einen nicht los.
Dieser „gute Mensch von Sezuan“ ist – richtigerweise - ein zutiefst unbequemer Theaterabend. Nichts wird glatt gebügelt. Alles wird gezeigt. Brechts gnadenlose Analyse greift noch immer. Sie wird theatralisch aufgefrischt, fantasievoll befragt, die kleinteilige Struktur mit noch kleineren Teilen beschossen. Und sie wird fantastisch ausagiert in Aachen. Sieben Schauspieler bewältigen die 25 Rollen, alle durchgängig auf der Bühne präsent. Die Diktion ist so hervorragend wie die Präzision, mit der die Figuren angedeutet und gefüllt werden, mit der sie Geräusche erzeugen oder umbauen. Natürlich – wir sind bei Brecht – wird auch gesungen. Auch fantastisch. Dabei ist Paul Dessaus Musik alles andere als einfach. Ludger Singer hat sie für Hammondorgel und E-Bass arrangiert und damit einen ganz heutigen Sound gefunden, den er nicht nur episch, sondern auch atmosphärisch einsetzt. Emilia Rosa de Fries übertrifft als Shen Te mit unaffektiertem, konzentriertem und wahrhaftigem Spiel sogar ihre bravouröse Iphigenie. Sie ist der Mittelpunkt dieses lustvoll Theater spielenden Ensembles, dieses berauschend lebendigen und sehr sinnlichen Theaterabends.