Abschussprämien ersetzen das Arbeitslosengeld
Löhle ist lustig. Löhle ist gesellschaftskritisch, aber nie verbissen. Löhle konstruiert mit scheinbar leichter Hand verworrene Sachverhalte und löst die selbst geschnürten Knoten so überraschend wie unterhaltsam auf. So kennen wir das, und meistens ist das lustig.
Löhle hat einen Freund aus Studientagen. Das ist der Regisseur Dominic Friedel. Der hat schon viele Löhles inszeniert, zum Beispiel vor 14 Monaten die Uraufführung von Der Wind macht das Fähnchen am Schauspiel Bonn (siehe hier). Und der erweist ihm jetzt am selben Ort einen nicht zu unterschätzenden Freundschaftsdienst: Er zeigt uns, dass Löhle nicht nur lustig, sondern auch traurig sein kann. Ganz nebenbei beweist er, wie überzeugend er selbst, Dominic Friedel, ein und demselben Text die komödiantische und die nachdenkliche Seite entlocken kann. Dramaturgisch hat Friedel den Abend geschickt aufgebaut: Die ersten eineinhalb der drei Mini-Dramen, die das Schauspiel Bonn in einer 90minütigen Aufführung zusammenfasst, geben uns reichlich Anlass zum Lachen, aber mitten im zweiten (und stärksten) Stück schlägt die Atmosphäre um, und es dominiert die Ernsthaftigkeit von Löhles Anliegen.
Big Mitmache heißt der erste Text, und mitmachen darf der Zuschauer tatsächlich. Er nimmt daher nicht seinen Platz ein, sondern wird in ein durch billige Plastikplanen abgetrenntes Geviert geleitet, in das bald auch vier in lächerlicher Verkleidung auf siebziger Jahre getrimmte junge Schauspieler eindringen. Die wären gern eine Terrorgruppe, aber dafür fehlt ihnen das Wichtigste: ein Name. Auch ein Ziel könnte ihrer Glaubwürdigkeit nicht schaden. Die Namenssuche funktioniert ein wenig banal, und ihr Ergebnis war vielleicht im Jahre 1973, in dem das Stück spielt, provokant, ruft heute aber nur ein Gähnen hervor. Die Zielfindung gerät überzeugender: Man ist dagegen. Nur gegen was? Chief Commander Felix überlegt und fasst es formidabel in einem einzigen Wort zusammen: Gegen das „System“. Aber was ist das System? – Niklas Luhmann hat ganz umsonst geforscht, denn die Definition ist so einfach: „Das System ist alles das, was … scheiße ist“, erklärt Nils. Endlich versteht Rosa das: Also „Busfahren, Rosenkohl, Sand zwischen den Zehen. … Da bin ich auf jeden Fall dabei.“
Auf dieser Ebene plätschert das Stück dahin. Mit überzogen agierenden Figuren, mit mitmachenden Zuschauern, die brav auch beim Skandieren von „Fotzennazis, Fotzenamis, Fotzenjuden“ rhythmisch in die Hände klatschen und sich kugeln vor Lachen. Immerhin hat die Farce alle Ingredienzen typischer Löhle-Stücke: den subversiven Humor, die Überraschungseffekte – und hier die Verführung des Zuschauers zu Applaus oder bestätigenden Reaktionen, die ihm nachher peinlich sind. Und die Systemkritik bei gleichzeitiger Verarschung derselben. Auch wenn das Stück auf der Folie des RAF-Terrorismus der siebziger Jahre spielt, zielt die Farce treffend auf die „Gegen-Alles-Mentalität“ vieler Zeitgenossen im 21. Jahrhundert; wir amüsieren uns über die schablonenhafte Sprache und Argumentationsweise, die uns von manchem Null-Bock-Protestler aus Fernsehen, Schule oder Uni bekannt vor kommt. Felix, Nils, Rosa und Ina fällt nicht nur kein gedankliches Konzept ein; nein: sie finden auch weder Gegner noch Opfer. In atemberaubender gedanklicher Akrobatik reklamieren sie daher die 20.895 Verkehrstoten für sich, die es im vergangenen Jahr 1972 gegeben hat. Aber selbst solche terroristischen Akte gelingen nicht: Denn wir schreiben den 25. November 1973, den ersten der mit der damaligen Ölkrise begründeten autofreien Sonntage. Da gab’s nicht mal Terror durch Verkehrsunfälle.
Im Plastikplanen-Karree sind die Gegner, die von den mit Spielzeug-Pistolen ausgestatteten vier Witzfiguren bedroht werden: Wir. Dabei hat sich Herr Friedel fraglos etwas gedacht. Aber was? In Löhles Stück ist die Gegnerin: Lore. Die ist eine Pflegerin und „lässt uns nicht raus“. Die Situation der Terroristen ist also die von Dürrenmatts Physikern oder von den Helden aus Rinkes Republik Vineta – eine typische surprise à la Löhle. Dass jetzt wir die Bedrohten sind, dass jetzt die Irrenanstalts-Pointe wegfällt, lässt uns ein wenig ratlos zurück. Soll die Satire auf die heutige ziellose Protestkultur damit verschärft werden? Bildet gar die Gesellschaft, die schweigende Mehrheit die Zwangsjacke, in die die konzeptlosen „Anti“-Helden gesteckt werden? Das wäre ja in diesem Falle nicht so schlimm… - Zur Reibeisenstimme von Willy Brandt, der gerade über den autofreien Sonntag schwadroniert, gehen wir auf unsere Plätze, um Stück zwei in Angriff zu nehmen. Willy war ja auch manchmal ziemlich ratlos, damals 1973.
Herr Weber und die Litotes ist das stärkste der drei Stücke, die wir an diesem Abend kennenlernen, und es wird auch schauspielerisch zum Höhepunkt der Inszenierung. Zu Beginn bleiben wir auf der kabarettistischen Ebene; da wird ein bisschen „Demenz und Prekariat“ gespielt. Rolf Mautz legt die senile, dem Lebensende entgegendämmernde und also für die Leistungsgesellschaft nutzlos gewordene Rentnerin großartig zwischen Karikatur und realem Elend an und weckt unser aller Sympathie; Wolfgang Rüter erzählt der alten Dame mit grandioser Lakonie und witzigen, treffenden Formulierungen seinen verkrachten Lebenslauf. Das ist ein wunderbares kabarettistisches Aneinandervorbei, während sich zwischen der dementen Seniorin und dem lakonischen Arbeitslosen so etwas wie eine vertrauensvolle Beziehung anbahnt. Doch etwa in der Mitte des Stücks, schlägt die Atmosphäre um: Es wird mucksmäuschenstill im Publikum, als sich eine Art düsterer Agenten-Story zu entwickeln scheint. Erst ganz zum Schluss erfahren wir, wie der arbeitslose Besucher der alten Dame sein Geld verdient: Als Staatsdiener under cover. Staatsausgaben in Höhe von 80 Milliarden Euro für Rentner und 80 Milliarden Euro für Arbeitslose lassen sich nur ins Positive kehren, wenn man das eine mit dem anderen abschafft. Also: Kissen auf die Kehlen der alten Menschen und feste zudrücken; die Abschussprämien für die Killer ersetzen das Arbeitslosengeld. Dominic Friedel hat diesen Text sensibel in Szene gesetzt, und die beiden Schauspieler finden die richtige Balance zwischen Pointensicherheit und Beklemmung, zwischen schneller Reaktion und nachdenklichen Pausen.
Die nachdenkliche, für Philipp Löhle ungewöhnlich düstere Stimmung bleibt auch im letzten Stück des Abends erhalten. Afrokalypse wirkt beim Lesen recht banal, aber Tanja von Oertzen und Tatjana Pasztor zeichnen allein durch ihre Sprache und ihre Mimik ein beklemmendes Bild von der Situation nach dem Untergang des Abendlandes. „Die Städte stehen, doch die Goten reiten“, heißt es in Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome: So zeigen die Barbaren dem weströmischen Reich die Überlegenheit von permanentem Wandel und Mobilität gegenüber der statischen Dekadenz Roms an. In Löhles 21. Jahrhundert sind es nicht die Goten und überraschenderweise auch nicht die Chinesen, die das dekadente Abendland überrollen, sondern die Afrikaner. Auch die treffen auf Lähmung und Dekadenz: Übrig geblieben sind nur noch ein Präsident, der sich in völligem Realitätsverlust statisch an Hierarchien und Privilegien sowie an den Glauben an die Überlegenheit der abendländischen Kultur klammert, und sein Adjutant Katten, bis zum Ende bedingungslos loyal. Dieses Ende ist bei Dominic Friedel für den Präsidenten letal; damit nimmt er dem Original-Text den interessanten Rest an Uneindeutigkeit. Das Stück mag ein wenig dünn geraten sein, die Intensität der Schauspieler und die ernsthafte, die Angebote des Texts auf billige Lacher ausschlagende Inszenierung lassen auch diesen, als Farce eher wie eine Fingerübung erscheinenden Teil der Trilogie zu einer treffenden Analyse unserer Gesellschaft werden.