Lebensgeschichte eines Träumers und Fantasten, aber auch eines Egoisten und Versagers
„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist“. (Arthur Schopenhauer)
Peer Gynt, mit allen Reizen des Märchens, einer Fülle fantastischer Wendungen und Szenen, ist die Geschichte eines Muttersöhnchens und Fantasten. Peer, der wortgewandte Ich-Sucher, setzt sich mit Fantasie und Größenwahn über die Realität seiner kleinkarierten Herkunft hinweg. Er erfindet sich seine eigene Welt, will König und gar Kaiser werden. Am Hochzeitstag entführt er die reiche Bauerntochter Ingrid, lässt sie dann aber sitzen, weil er das Mädchen Solveig schöner findet. Auf der Suche nach seinem wahren Ich rät ihm der „Krumme“, gewissermaßen ein Phantom der Selbstsucht, „außen herum zu gehen“, einen Umweg zu machen. So lässt Ibsen seinen Helden die wildesten Abenteuer in vielen Ländern bestehen und bringt ihn schließlich an seinen Ausgangsort zurück, wo sich am Ende der „Knopfgießer“ Peer in den Weg stellt und ihm sein irdisches Ende verkündet. Peers Lebenszyklus wird als Zwiebel dargestellt, in der der alternde Peer nichts als ungenießbare Schalen findet, im Kern nur das Nichts. Immer wieder steht er vor der Entscheidung „Sei Du selbst“ oder „Sei Dir selbst genug“. In dem ein Jahr vor Peer Gynt entstandenen Gedicht Brand fasst Ibsen diese Aufforderung in die Zeilen „Alles, was du bist, sei durch und durch nicht halb ein Fisch und halb ein Lurch“.
Staffan Valdemar Holm legte im November des vergangenen Jahres sein Amt als Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses nieder. Der Grund: Burnout. Er reiste zur Behandlung nach Lappland und suchte Erholung an der Ostsee. Eine Auszeit in der Natur, fernab des Kulturbetriebs. Nun inszenierte er Peer Gynt in einer gekürzten, modernen, gereimten Übersetzung von Angelika Gundlach. Holm, der nie zuvor ein Werk von Ibsen in Szene gesetzt hat, ist fasziniert von Peers Vitalität, von seinem Drang zum Leben, ja zum Überleben. Er kennt die Themen gut: die Natur, die für Skandinavier bedrohlich ist. Das Exil. Ibsen schrieb Peer Gynt 1867 im „freiwilligen“ italienischen Exil, auch Holm lebt seit Jahren fern der Heimat. Und natürlich besonders die Frage nach dem Ich, nach der eigenen Identität.
Die Bühne stellt ein Museum dar, mit großformatigen Fotografien in Schwarz-Weiß: Landschaften, Portraits, Pferde in der Wüste, tanzende Frauen. Alle mit Bezug zu den Szenen des fantasievollen Stückes. Bühnenarbeiter, wie Museumswächter in dezentes Hellgrau gekleidet, verschieben dann und wann einzelne Elemente, so dass sich neue Perspektiven ergeben. Eine zunächst bestechende Idee, die lebenslange Ich-Suche dieses „nordischen Fausts“ vor diesem uniformen Hintergrund mit schönen Bildern aufzuzeigen. Über den fast vier Stunden langen Abend trägt sie nicht unbedingt.
Holm gelingen einprägsame Bilder, zum Beispiel die Szene mit den Trollen (alle mit dicken Brillen und einem langen Schwanz), deren König (hervorragend: Moritz Führmann) den Reisenden in seinem Reich festhalten will. Großartig ihr eigenwilliger Tanz mit extrem sparsamen Gesten und ausdrucksvoller Mimik. Überhaupt beeindruckend die musikalische Gestaltung des Abends. Schon zu Beginn: als Peer, in schwarzer Hose und schwarz-weißem Norwegerpulli, sich schweigend die Fotos ansieht, ertönt Griegs Peer Gynt-Suite und stimmt die Zuschauer auf den Abend ein.
Olaf Johannessen ist unbestreitbar der Mittelpunkt der Inszenierung – ein in jeder Minute intensiv präsenter Protagonist, der auch glaubhaft die Entwicklung der Hauptfigur über eine große Lebensspanne darstellt. Ein unverbesserlicher Frauenheld in jungen Jahren, ein ständig Suchender, ein Glücksritter, ein Sohn, der seiner Mutter erst am Sterbebett nahe kommt. Karin Pfammatter spielt diese streng und unversöhnlich, eine verhärmte Witwe, die ihren Sohn als Lügner beschimpft. Anna Kubin ist Solvejg, mit langen blondem Zopf und Blumenkranz im Haar, fast eine Klischeeausgabe eines skandinavischen Bauernmädchens. Sie allein glaubt an Peer. Immer wieder überschneiden sich ihre Pfade – und doch kommen sie nicht zueinander. Am Schluss umarmen sie sich, verschlingen sich ineinander – dazu ertönt unglaublich Neneh Cherrys Dream Baby, Dream.Aber sie verlässt ihn doch.
Der Abend bietet manch pittoreske Bilder aus dem dörflichen Leben einer vergangenen Zeit. In Schwarz gekleidete Menschen tanzen zu Volksmusikweisen, einer strengen Choreografie folgend. Bei Peers Afrika-Abenteuer, wo er als Sklavenhändler auftritt, ist er von sich anmutig bewegenden Frauen in schwarzen Burkas umgeben – ästhetisch schön.
Offen bleibt, warum gerade jetzt und heute wieder dieses Stück auf dem Spielplan steht. Was ist der aktuelle Bezug? Außer der für jeden Menschen existentiellen Frage nach der eigenen Identität?
Ein Fest primär des großartigen Hauptdarstellers, allein deshalb schon sehenswert.