Zauberland ist abgebrannt
„Zauberland / ist abgebrannt / und brennt noch irgendwo…“ Gemäß Henrik Ibsens Regieanweisung müsste Frieda Foldal zu Beginn des 2. Akts einen Danse Macabre, einen Totentanz spielen. In Armin Petras‘ Bearbeitung des Stücks für die Münchner Kammerspiele, die jetzt beim Duisburger Theatertreffen gastierte, eröffnet Frieda den Abend schon vor Beginn des ersten Akts - mit Rio Reisers „Zauberland“. „Zauberland ist abgebrannt / und brennt noch lichterloh.“
Wie wahr. Bankdirektor Borkman hat wahrscheinlich getan, was Banker vor der jüngsten Wirtschaftskrise halt so taten. Mancher Kunde, der ihm sein Vermögen anvertraut hatte, war danach ziemlich abgebrannt. Auch im Falle von Borkman hat die Bankenaufsicht erst mit Verspätung reagiert, dann aber heftig: Acht Jahre Knast hat er inzwischen abgesessen, und seitdem lebt er nahezu ohne Kontakt zur Außenwelt im Dachgeschoss seines Hauses. „Die Jahre ziehen vorüber wie schwarze Ochsen.“ Seine ihn von Herzen hassende Göttergattin wohnt im Erdgeschoss – Borkman hatte in der in seinem Falle irrigen Annahme, dass Macht länger hält als Zuneigung, sicherheitshalber die kleinere Liebe gewählt und die reichhaltige Mitgift von Gunhild den tiefen Gefühlen zu deren Schwester Ella vorgezogen. Ella ist jetzt unheilbar erkrankt und wünscht sich den Spross der unglücklichen Banker-Ehe, ihren Neffen Erhart, dem sie in nicht nur platonischen Gedanken zugetan scheint, als Sterbebegleiter. Der aber brennt mit einer wenig standesgemäßen älteren Schickse durch. Im Zauberland der Banker-Family brennt’s tatsächlich noch lichterloh…
Soweit das Stück, dessen Unglückslinien Petras in mancher Hinsicht verschärft und in jeder Hinsicht komödiantischer macht. Ohne aber dabei die Traurigkeit des Schicksals der Figuren zu verraten: Deren Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten. Petras‘ Figurentableaus bieten immer wieder großartige Bilder, und Olaf Altmanns Bühnenbild ist mit das Überzeugendste, was wir in dieser Spielzeit sahen: Der Boden, auf dem die Figuren des Stücks jetzt zu stehen versuchen, bietet keinen Halt; im Zickzack verläuft die schmale Spielfläche fast vom Schnürboden hinunter bis zur Bühne, und an kaum einer Stelle auf dieser Perma-Schräge kann ein Erwachsener aufrecht stehen. Unten kauern zunächst Ella und Gunhild, die beiden Schwestern, bei Wiebke Puls und Cristin König mal eine Art abgehalfterter Königinnen, mal – vor allem zu Beginn - richtige Klatschweiber, die über Borkman lästern wie über eine entfernte Dorfbekanntschaft. Seitenhiebe wegen hässlicher Strümpfe machen die schwesterliche Rivalität mit dem Holzhammer deutlich; wesentlich subtiler zeigt Petras sie auf, als Ella, mittlerweile mühsam die Schräge hinaufgekrabbelt zu Borkman, mit diesem in Erinnerungen an die frühere Liebe schwelgt: Während Wiebke Puls sich oben links in erotischer Lust auf den Bankdirektor stürzt, zieht Cristin König sich unten rechts ganz langsam aus – kleine, berührende Zeichen der Regie. - Was Borkman Ella verwehrte, wird ihr auch Neffe Erhart nicht geben: Als die unheilbar Erkrankte ihn für die letzten paar Monate mit nach Hause nehmen möchte, stürmt dieser mit Messer und Dolch auf sie zu – Sterbehilfe einmal anders: Da scheint der Schierlingsbecher von Dignitas doch humaner…
Gottlob schreckt Erhart zurück. Diesen Erhart karikiert Lasse Myhr als einen grenzdebilen, dem Alkohol verfallenen Stotterer und ungepflegten Studenten, als alberne, unselbständige Clownsfigur mit kindlichem Gemüt. Ein Leben lang überbehütet von zwei älteren Frauen, hat er sich nun wohl mit einer Art Mutterkomplex in die Arme von Fanny Wilton geflüchtet, einer charismatischen älteren Frau im langen Pelz. Lasziv, scheinbar immer leicht high oder angesäuselt, hat Fanny sich offenbar genussvoll mit der Welt arrangiert. Dass für sie die Eingangstür des Hauses offenbar ins Dachgeschoss verlegt wird, ist nicht logisch, aber das Bild der zu ihren Auftritten mit Anmut, Sektglas und Grazie die Zickzack-Schräge aus dem Dachgeschoss herunterrutschenden alten Dame wird sich in unserem theatralen Langzeitgedächtnis festsetzen. Denn Sie glauben nicht, wer die leichtlebige Verführerin spielt, die den studentischen Suffkopp abschleppen wird: Es ist Hildegard Schmahl, die Grande Dame der Münchner Kammerspiele, im wahren Leben 73 Jahre alt und noch immer eine schöne Frau. Mit Gelassenheit und Würde verteidigt sie ihre liaison fatale mit dem mehr als eine Generation jüngeren Studenten: „auch wenn es wider jede Vernunft und Praxis ist“. Ibsen hat wahrscheinlich gelogen: Die beiden werden zum Schluss sicher nicht im Pferdeschlitten in die Welt hinaus fahren, sondern im umgebauten Jaguar E: Harold und Maude lassen grüßen.
Der Ankerpunkt dieser Inszenierung aber ist André Jungs großartige Entwicklung der Figur des fortgesetzt scheiternden John Gabriel Borkman. Jung ist über weite Strecken der einzige, der seine Figur halbwegs „normal“ interpretiert, ohne exaltierte Ticks und psychische Deformationen, wenn auch mit unrealistischem Selbstbild. In Olaf Altmanns grandiosem Bühnenbild steht sein Schreibtisch ganz links auf der obersten Schräge. Soweit wie möglich ist er der Welt entrückt – aber hoch hinaus, da, wo er hin will, geht es von dort nicht mehr. Die Erdanziehungskräfte müssen ihn über kurz oder lang nach unten ziehen. Zuvor aber sehen wir großartige Bilder: Da steht Borkman aufrecht auf dem Schreibtisch, und Michael Tregor als sein Hilfsschreiber Foldal kauert in Embryo-Haltung darunter, dem ehemals großen Chef bedingungslos ergeben. Foldals Tochter Frieda hängt kopfüber rechts davon im schmalen Spalt. Auch der Schreiber schwebt bald nur noch von Stahlseilen gehalten frei im Raum – Abhängigkeiten, Ausgeliefertsein, die Wirren des Lebens, den vergeblichen Versuch des Loslösens mögen wir in diese Bilder hineininterpretieren. Borkmans Bank-Unterlagen wehen durch die Zickzackrutsche – es ist der chaotische Rest einer zugrunde gegangenen Karriere, eine überflüssige Erinnerung an eine erfolgreichere Zeit, als Borkman noch Macht ausübte. Borkman träumt von einer neuen Bank und von seiner Rehabilitation, Foldal träumt vom Erfolg seines (erkennbar misslungenen) Dramas. Beider Träume sind unrealistisch, den gewesenen Bankdirektor und den gewesenen Hilfsschreiber scheint jedoch ein vertrauensvolles, warmherziges Verhältnis zu verbinden, während das Verhältnis Borkmans zu seiner Familie immer noch von Fremdheit, Indifferenz und Hybris geprägt ist.
Ob er aber tatsächlich die Schuld trägt am Zusammenbruch seiner Bank, ob er seine Kunden bewusst betrogen hat oder selbst in Treu und Glauben in die Falle getappt ist, bleibt bei Armin Petras noch mehr in der Schwebe als in Ibsens Original. Nach der Pause wird zunehmend Borkmans Verblendung erkennbar, der Verlust seiner Bodenhaftung. Am Ende wird er verrückt; er schleppt die Mäntel von der Zuschauer-Garderobe herein, faselt dekonstruiertes Castorf-Pollesch-Zeugs und Texte des irrsinnig gewordenen Shakespeare-Königs Lear. Er endet in der Kohlen-Lore, in der er wie auf einem Formel-1-Parcours über die Bühne gefahren wird. Poetisch, fast schon kitschig wird sein Tod in Szene gesetzt.
Der Premierenabend vor einem Jahr in München hatte die Kritik gepalten. Großem Lob standen beißende Verrisse gegenüber. Auch in Duisburg gingen einige Zuschauer zur Pause. Aber so durchdacht, so atmosphärisch stimmig und von der Charakterzeichnung her sensibel und logisch nachvollziehbar haben wir lange keine Petras-Inszenierung mehr gesehen. Man kann Thalheimers „Medea“, die Auftaktinszenierung des Duisburger Festivals, in ihrer stolzen, auftrumpfenden, wie in Stein gemeißelten Strenge bewundern – das Zauberland aber hat der für beide Inszenierungen verantwortlich zeichnende Bühnenbildner Olaf Altmann für Armin Petras gebaut, und der hat es mit tollen Schauspielern bevölkert.