Übrigens …

Die Stunde der Wahrheit

Eine Jugend in Deutschland

Als wir ziemlich außer Atem das Dachgeschoss des Theaters Duisburg erklommen haben, steht er da schon wartend innerhalb des mit Klebestreifen abgezirkelten Karrees, das für die kommenden 70 Minuten seine Bühne sein soll. Hadi Khanjanpour, Absolvent der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg, im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern als Kriegsflüchtling aus dem Iran nach Deutschland eingewandert, bekam im Rahmen seines Studiums die Aufgabe gestellt, nur mit einem einzigen Requisit in einer einzigen Lichtstimmung, ohne Musik und ohne Bühnenbild, eine Stunde lang nur von sich selbst zu erzählen. Dass ihm diese Examensarbeit nicht vollständig misslungen sein kann, ahnen wir, wenn wir lesen, dass seine autobiographische Erzählung sich seit zwei Jahren im Repertoire der theaterperipherie Frankfurt hält.

Zu Beginn tobt Khanjanpour wie von fremden Kräften sinnlos hin- und hergeworfen in seinem Karree herum – möglich, denken wir später, dass damit die Kriegswirren im Iran symbolisiert werden, die er in frühester Kindheit erlebt hat. Begreifen tun wir erst, als diese wirren Kräfte ihn an die riesige Schultafel pusten, die die Rückseite des Karrees begrenzt, und die in Khanjanpours Hand befindliche Kreide – eben das einzige Requisit des Abends – wie von selbst die Umrisse eines Flugzeugs zeichnet: Das einzige Wort, das wir inmitten eines für den deutschen Zuschauer unverständlichen iranischen Wortschwalls verstehen - heißt es „Exit“ oder „Exil“? Egal: Der Exit aus dem Iran, der Exit aus dem Flughafen führt ins Exil. „Heim“ ist eines der ersten deutschen Wörter – der kleine Hadi und seine erkennbar integrationswillige Familie suchen ein Heim. Und treffen auf hilfsbereite Menschen und die jede Hilfe obstruierende groteske deutsche Bürokratie.

Das ist witzig. Khanjanpour erzählt ja noch aus der Perspektive des kleinen Jungen Hadi, für den alles fremd, aber auch ein Abenteuer ist. Der aber schon lernbegieríg ist und an sprachlichen Wendungen interessiert, als hätte sich seine spätere Berufswahl bereits in frühestem Alter abgezeichnet: Permanent fliegen uns zu Beginn seines Berichts deutsche Sprichwörter um die Ohren, die die auf Wohnungs- und Arbeitssuche befindliche Familie zu hören bekommt. „Der frühe Vogel frisst den Wurm“ oder „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Und dann plötzlich, ganz nett, gar harmlos dahergesagt: „Arbeit macht frei.“ – Wir zucken kurz zusammen, aber der Hadi da vorn auf der Bühne, der ist so nett, so sympathisch – wir verdrängen es wieder. Hadi erzählt ja schon von den Hilfsorganisationen – die eine ist nur für afrikanische Menschen zuständig, die nächste nur für Tiere, „also echte Tiere…“ Mit freundlichem, fast naivem Lächeln gibt Khanjanpour diese Ungeheuerlichkeiten wieder; fast würde man sie angesichts der temperamentvollen, so sympathischen Erzählweise des Schauspielers überhören.

Brilliant passt Khanjanpour nicht nur seine Spielweise dem jeweiligen Lebensstadium an, sondern auch seinen Text der mit zunehmendem Lebensalter wachsenden Fähigkeit zur Reflektion und zum Erkennen der Außenseiterposition des Migranten. Die Erlebnisse bei der Wohnungssuche, die Integration im Kindergarten, wo Hadi zu Fasching als Rotkäppchen verkleidet wird, sind noch mit subversivem Humor geschildert, in den Bericht vom gescheiterten Tennis-Training mischt sich erste Traurigkeit, und am Gymnasium erfährt Hadi erstmals Ausgrenzung und Ablehnung durch den verknöcherten Lehrer, zunächst noch ohne das Erlebte vollständig zu verarbeiten. Immer noch mit Witz und Humor gespielt, brechen auch tragische Elemente in die Erzählung ein. Die Ausgrenzung nimmt zu: Nur Omar hilft beim Referat, ein anderer Ausgegrenzter, ein Marokkaner, der in Deutschland das gleiche Schicksal erleidet wie der Iraner. Der fertige Erwachsene, der Student begehrt nun auf, als er die elitäre Ablehnung seitens des Professors erlebt – und ohne dass Khanjanpour dies auf der Bühne auch nur ansatzweise ausspricht, versteht der Zuschauer, wie Aggression entsteht, Hass auf die Institutionen – und Anfälligkeit für radikale Positionen, für den Islamismus. Macho-Asi-Prügel-Banden versuchen Hadi mitzunehmen, doch der intelligente, integrationswillige Iraner bleibt auch dort Außenseiter. Vollständige Integration scheint nur im Sport möglich, aber die Mesut Özils und Nuri Sahins sind Ausnahmen in unserer Gesellschaft. Am furiosen Ende ziehen alle seine Misserfolge im Zeitraffer noch einmal an Hadi vorbei.

Mit großer Spielfreude schildert Hadi Khanjanpour all diese Episoden trotz der zunehmend migrantenfeindlichen Erlebnisse mit Humor und scheinbarem oder auch anscheinendem Optimismus. Trotz der permanenten satirischen Überzeichnung wirken seine Erlebnisse authentisch und allgemeingültig. Khanjanpour benennt die Probleme, differenziert zwischen Fremdenfeindlichkeit und ungeschicktem Umgang mit den Fremden. Niemals wird er aggressiv; stets bleiben sein Wunsch und sein unbedingter Wille zur Integration erkennbar. Damit sendet er auch für Zuschauer mit Migrationshintergrund die Botschaft vom Erfordernis der Integrationsbereitschaft aus.

Fast fände seine Autobiographie ja auch ein positives Ende. Antonella will er heiraten; ihre Freude über Hadis Antrag ist groß, doch kurze Zeit nach der Verlobung liebt sie ihn nicht mehr. Wenige Tage zuvor hatten wir beim Duisburger Theatertreffen die „Medea“ gesehen, und ein Satz aus der Thalheimer-Inszenierung fällt uns wieder ein: „Das Glück ist für den Menschen nicht gemacht; trifft heute den und morgen einen anderen.“  Wenn der eine oder andere Intendant Hadis Solo-Performance in den letzten zwei Jahren auf der Bühne gesehen hat, wird das Glück nicht lange auf sich warten lassen – Hadi wird kaum allzu lange an der Peripherie der deutschen Theaterlandschaft spielen müssen. Einstweilen aber ist er am Ende seines Lebensberichts angekommen. In Duisburg, im Dachgeschoss des Theaters. Er steht da innerhalb des mit Klebestreifen abgezirkelten Karrees und wartet. Gleich soll die Vorstellung beginnen. Das spärlich erschienene Publikum jubelt.