Der zerbrochne Krug im Theater Duisburg

Vor Gericht und auf hoher See…

Was bisher geschah: Bei Heinrich von Kleist wird das endgültig erst am Schluss des Stücks und am Ende dieses irrwitzigen Prozesses um den zerbrochenen Krug aufgeklärt. Eines Prozesses, in dem es eigentlich weniger ums Porzellan als um die Suche nach einem Lustmolch geht, der gestern Nacht die Eve Rull, ein wahres Inbild des reinen Mädchens, in ihrem Schlafzimmer besuchte. Dass es Adam war, der die Eve zu verführen suchte, weiß zwar jeder Zuschauer, doch den wahren Tathergang klärt das stille Mädel erst gegen Ende auf.

Ganz anders bei Bastian Kraft. Er stellt den langen Evchen-Monolog an den Anfang seiner Inszenierung, und so soll denn die ganze scheinbar verworrene, für den Zuschauer aber schnell durchschaubare Geschichte aus der Sicht von Tochter Rull erzählt werden. Ob das gelingt, sei dahingestellt; jedenfalls steht eine in ein ziemlich unvorteilhaftes Röckchen gesteckte Birte Schnöink erstmal ziemlich steif vorm eisernen Vorhang und referiert das Geschehen der vergangenen Nacht einschließlich ihrer schnöden Erpressung durch den Richter Adam. Ein bisschen naiv wirkt sie, so furchtbar brav wie sie bei Kleist eben ist, und ziemlich konzentriert und statisch. Der erfahrene Theaterbesucher weiß spätestens seit Nicolas Stemann: Was so beginnt, wird in wildem Spektakel enden.

Nun denn, der eiserne Lappen geht hoch, und Schreiber Licht kracht ins Zimmer, die Handkamera vor der Nase. Mit ihm stolpert ein überraschend junger Dorfrichter Adam herein, gepflastert und bandagiert wie ein schwer verwundeter Kriegsversehrter aus dem Afghanistan-Einsatz. Ganz schön investigativ sind die Fragen des Schreibers an seinen Chef – Tilo Werners Licht ahnt schon, was für einem wenig vertrauenswürdigem Filou er zu dienen hat. Die Kamera projiziert die Gesichter, aber auch den blutunterlaufenen Klumpfuß des Richters in Großaufnahme auf die Rückwand, und Arthur Fussy stimmt uns akustisch auf das ein, was uns für die restlichen eineinhalb Stunden erwartet: viel elektronische, meist disharmonische Musik. Angekündigt wird Gerichtsrat Walter, der über die Dörfer reist, um zu schauen, ob in der ländlichen Gerichtsbarkeit noch alles mit rechten Dingen zugeht, und siehe da: in Hamburgs Huisum ist der Mann aus Utrecht eine Frau: Sabine Orléans wird im Verein mit Schreiber Licht zum schauspielerischen Highlight und zum Ankerpunkt unserer Aufmerksamkeit in einer durchaus zwiespältig zu beurteilenden Inszenierung. Frau Gerichtsrätin werden den Fall unter besonderer Berücksichtigung des „Missbrauchs“ untersuchen lassen – gemeint ist der Machtmissbrauch, aber in Zeiten von indischen Vergewaltigungen und Rückblicken in die Seelenlandschaft katholischer Priester denken wir unwillkürlich zuerst an den sexuellen Missbrauch. Immer mal wieder versteckt die Inszenierung augenzwinkernd Hinweise auf die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation, die zu finden Spaß macht wie das österliche Eiersuchen.

Mit Beginn des Gerichtsprozesses wird auch die zentrale Metapher des Bühnenbildes enthüllt: eine Metapher, die, wie zu hören ist, nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den Schauspielern polarisiert(e). Es handelt sich um eine zweistöckige Konstruktion aus jeweils vier an Stahlseilen aufgehängten Boxen pro Ebene, die jeweils von einer der acht Figuren des Dramas bewohnt werden. Eine jede Figur des Kleistschen Dramas ist halt in ihrer eigenen Welt gefangen und hat ihre eigene Version der Geschichte. Und kaum hat Richter Adam die Aufforderung der Gerichtsrätin, den Prozess „nach den gesetzlichen Formalitäten, wie es in Huisum üblich ist“, zu führen, ausschließlich im Sinne des zweiten Teils dieser Formulierung zu interpretieren beschlossen, da schaukeln und wirbeln die acht Boxen wild hin und her wie Fischerboote in einem Orkan. Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand, und in Huisum trägt der Gott die Teufelskralle. (Übrigens sollen, wie man aus dem Thalia-Theater vernimmt, die Schauspieler bei den Proben tatsächlich mit Seekrankheit zu kämpfen gehabt haben, und insbesondere Sabine Orléans und Marina Wandruszka meint man dies noch anzusehen…)

Die Metaphorik der Bühne ist überzeugend, auch wenn einige Zuschauer sich von der dadurch ausgelösten mangelnden Interaktion der Schauspieler und insbesondere von deren gelegentlicher Konzentration auf die Tücken der Technik anstelle des Texts genervt fühlten. Auch mit dieser Herausforderung geht Sabine Orléans am überzeugendsten um: Trotz des Kampfs mit der Seekrankheit, trotz allen Komödiantentums feiert sie (als einzige) die Sprache Kleists, spricht ihren Text mit großer Klarheit, eigenwilliger Ironie und einer Art gnadenloser Sanftheit gegenüber dem unsäglichen Dorfrichter. Ihre Präzision kontrastiert wunderbar mit der Oberflächlichkeit von Philipp Hochmairs Adam und der wabernden Redseligkeit von Sandra Flubachers Marthe Rull. - Schauspielerisch ähnlich überzeugend ist Tilo Werner als Licht, der den Prozess scheinbar an der Scheibe seiner Kabine mitprotokolliert und dabei leise eine Symphonie für Edding-Stifte quiekt – er ist das komödiantische Glanz-Licht der Inszenierung, aber auch scharf und gnadenlos, als es um die endgültige Überführung seines Vorgesetzten Adam geht. Marina Wandruszka interpretiert die Rolle der Frau Brigitte, die ja eigentlich nicht allzu viel hergibt, auf interessante Weise: In Bastian Krafts Inszenierung scheint sie von Beginn an zu wissen, dass der eigentliche Delinquent der Dorfrichter höchstpersönlich ist – mutig und mit nur gespielter Naivität gibt sie mit ihrer Aussage der Karriere des Richters den Gnadenstoß.

Und Philipp Hochmair selbst? Das Urteil über den Richter, liebe Leserinnen und Leser, müssen sie selbst sprechen. Er spielt den Adam so wie nahezu alle Rollen in den letzten Jahren: temperamentvoll, überdreht, zappelig, mit einem Übermaß an effektvollen Sprüchen und Bewegungen. Das ist unkonventionell, das ist unterhaltsam, das hat Witz – und ist in oftmals störendem Maße eitel und selbstverliebt. Die meisten seiner Kollegen jedenfalls lassen sich von seinem Dominanzstreben nicht unterbuttern – das ist erfreulich. Aber sie haben es schwer: gegen die Faxen des Hofnarren Hochmair und gegen das nicht immer sichere Gespür des Regisseurs für den Rhythmus der Inszenierung. Da ist manches zu lang, da wird manches erschlagen im Video- und Soundgewitter. Irgendwie ist das alles nicht aus einem Guss, aber eine überzeugende Talentprobe ist die erste Inszenierung des jungen Regisseurs auf der großen Bühne des Thalia-Theaters schon.