Kreon und die Folter in Uruguay
Etwa in der Mitte der 90minütigen Aufführung fliegen kleine Steckbriefe mit Schwarzweiß-Portraits sowie den Namen und Daten des Verschwindens der abgebildeten Personen ins Publikum. Bei diesen handelt es sich um „Desaparecidos“, „Asesinados“ oder einfach Verstorbene „por condiciones desfavorables“ – um Opfer der Militärdiktatur in Uruguay in den Jahren zwischen 1973 und 1984. Auf der Bühne steht gemeinsam mit sechs professionellen Schauspielern ein Ensemble von siebzehn Frauen, die das Schicksal unwiderruflich an diese unselige Zeit gekettet hat: Frauen, die während der Diktatur inhaftiert oder exiliert worden waren, sowie zwei Töchtern der Betroffenen. Circa 30.000 Menschen wurden während der Diktatur gefoltert; etwa zwei Prozent der Uruguayer waren während dieser Zeit irgendwann einmal im Gefängnis. Uruguay galt damals gemessen an der Gesamtbevölkerung als das Land mit der weltweit größten Anzahl politischer Gefangener.
Uruguay gilt auch als das Land des Schweigens. Zögerlich begann mit der Rückkehr des Landes zur Demokratie im Jahre 1985 die Aufarbeitung der Verbrechen. Bereits im Dezember 1985 konnten die Militärs ein Amnestiegesetz für Menschenrechtsverstöße durchsetzen, die vor dem 1. März 1985 begangen wurden; das äußerst umstrittene Gesetz wurde im Jahre 1989 durch ein Referendum mit sehr knappem Ausgang legitimiert; eine weitere Abstimmung im Jahre 2009 bestätigte dieses Ergebnis. Noch heute ist es, wie Mitglieder des Produktionsteams der Antigona Oriental berichten, im Land selbst „politisch nicht korrekt“, über die Verbrechen während der Diktatur zu sprechen. Die Aufführung, die wir in Essen sehen, spiegelt die Vorgänge in Uruguay während und nach der Diktatur in Texten aus Sophokles‘ Antigone und ist überwiegend aus Original-Zitaten von Opfern der Diktatur und ihren Nachkommen zusammengesetzt. Sie wurde nur achtmal am Teatro Solis in Montevideo gespielt, das nicht als Koproduzent auftritt, sondern nur die Räumlichkeiten zur Verfügung stellte; mehr Spieltermine gab es auf Tourneen in Lateinamerika und Europa. Die Produktion und die Finanzierung der lokalen Aufführungen übernahm zu neunzig Prozent das Goethe-Institut Uruguay, das auch die Kosten der Gastspiele im Ausland zur Hälfte trägt – der Anteil der finanziellen Unterstützung aus Uruguay ist verschwindend gering. Obwohl die Aufführung insbesondere beim jungen uruguayischen Publikum großen Anklang fand, zeigt – vermutlich auf Wink der Politik - kein örtliches Theater Interesse, die Inszenierung zu zeigen.
Soweit die lange Vorrede. Wie Volker Lösch seine stets auf Krawall gebürsteten politischen Stoffe inszeniert, ist hinreichend bekannt: Er macht ein aggressives Thesentheater, vorgetragen von lauten, wutbürgerhaften Laien-Chören. Differenzierte Argumentation oder inszenatorische Feinmotorik sind seine Sache nicht. Sein Theater ist mehr Politik als Kunst, mehr Axt als Florett, mehr Occupy als Davos. Das ist in manchen Inszenierungen angreifbar – im Falle eindeutiger, unumstrittener Zuschreibungen von Gut und Böse wie den ungeheuerlichen Verbrechen lateinamerikanischer Diktaturen (nicht nur in Uruguay) passt es. Erschütternd, insbesondere in der Drastik der geschilderten Folterungen und des sexuellen Missbrauchs der Gefangenen schwer aushaltbar sind die autobiographischen Berichte der betroffenen Laien-Schauspielerinnen. Auch nach dem Ende der Gefangenschaft erleben die Betroffenen eine Fortsetzung der Isolation – sie waren stigmatisiert, trafen auf Berührungsängste und Verunsicherung bei der übrigen Bevölkerung. Obwohl alle Texte chorisch vorgetragen werden, klingen viele individuelle Biographien an. Die Geschehnisse während der Diktatur haben Traumata hinterlassen; so berichtet eine Frau, dass sie nach ihrer Freilassung nicht mehr im Rio de la Plata schwimmen kann, denn in ihrer Vorstellung machen die Leichen der teilweise in betäubtem Zustand aus Flugzeugen abgeworfenen Regimegegner das Wasser schwer und unzerteilbar für ihre Hände. Der Machismo der patriarchalischen Gesellschaft Uruguays gestern und heute wird angeklagt – für die Frauen war es besonders schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen, und ihre Erniedrigungen in der Gefangenschaft waren aufgrund der sexuellen Missbrauchskomponente noch schwerer zu ertragen.
Geschickt verschränkt Volker Lösch Teile der Antigone-Handlung mit den Berichten der Opfer der uruguayischen Diktatur: Nach zirka fünfzehn Minuten schält sich Victoria Pereira aus dem Viel-Frauen-Chor: Sie spielt die Antigone, und im Publikum outet sich Sofia Espinosa als Ismene. Klassenkämpferinnen sind auch diese beiden, lautstarke, kraftvolle Wutbürgerinnen, die ihren Streit um Aufbegehren gegen die menschenverachtenden Entscheidungen der Herrschenden oder stillen Protest und temporäre Anpassung um des Friedens willen im Stile politischer Agitatoren und wütender Demo-Anführer austragen. Was seine Tücken hat: Wenn Ismene wutentbrannt schreit: „Wir sind Frauen. Wir haben gegen Männer keine Chance!“, dann glaubt man Espinosa exakt das nicht, so temperamentvoll, wütend, wild entschlossen wie sie wirkt. Gleich drei Kreons tauchen auf – mit schablonenhaften Politikersprüchen, inhaltsleeren Appellen, hohlen Fortschritts- und Kampfparolen. Immer wieder vermischen sich die beiden Ebenen der Aufführung; die Kreons greifen die wütenden Frauen physisch an, als diese die Namen einzelner Protagonisten der Militärdiktatur, die heute noch unbehelligt auf gut dotierten Posten sitzen, öffentlich machen. Ebenso wie Kreon gehen die Ordnungshüter des heutigen Systems von einer quasi gottgegebenen Autorität und Hierarchie aus. Auch Ismene wird vergewaltigt - wie die regimekritischen Frauen durch die machistischen Ordnungshüter und Militärs.
Wie Haimon den Kreon, so sprechen auch die Söhne der Militärs ihre Väter auf ihre Untaten an, aber die Beharrungskräfte der Älteren sind zu stark. Kreon und die uruguayischen Militärs flüchten sich in eine Scheinwelt, verschließen die Augen vor der Reaktion und dem Willen der Bevölkerung: „Ich habe getan, was zu tun war.“ In Deutschland kennen wir solche Reaktionen aus den Jahren, ja: den Jahrzehnten nach der Nazi-Diktatur; bei Gastspielen in Spanien fühlten sich die Zuschauer an das Schweigen nach Ende der Franco-Zeit erinnert. Wie immer arbeitet Lösch sich mit der Machete durch den Text: für Zwischentöne fehlen ihm Gespür, Zeit und Toleranz. Das Resultat ist oft ein Theater, das den Kunstfreund nervt – aber es ist ein Theater, das eine Haltung einfordert, das unzählige Gedanken und Fragen auslöst:
Wohin führt die Radikalität einer Antigone? Kann Ismenes zwar resignativer, aber doch durchdachter, kompromissbereiter Politikansatz Blutvergießen verhindern, ohne gleichzeitig die Welt schlechter zu machen? Was macht eine unbewältigte, schuldbeladene Vergangenheit, was machen massenhafte Menschenrechtsverletzungen mit der kollektiven Psyche eines Volkes? Was hätten wir, die Zuschauer(innen) mit der Gnade der richtigen zeitlichen und geographischen Geburt, in solchen Situationen getan – wären wir Mitläufer geworden, hätten wir den seines Unrechts gewahr werdenden Kreon und die vorgeblich geläuterten uruguayischen Militärs getötet, verfolgt, bestraft? Sie begnadigt? Was ist der Sinn von Strafe: Rache, Schutz der überlebenden Bevölkerung, Läuterung, Resozialisierung? Wie behandeln wir die Mörder dreißig oder vierzig Jahre nach ihrer Tat, wenn sie diese längst als Unrecht erkennen und bereuen? Gibt es ein Recht auf Vergessen für politische Verbrecher?
In Deutschland denken wir bei dieser Inszenierung stets die Zeit der (lange Jahre mangelhaften) Bewältigung des Nationalsozialismus mit. Vielleicht benötigt ein Volk ja tatsächlich eine Generation, um mit der Aufarbeitung solcher kollektiven Traumata zu beginnen, und vielleicht benötigt es zwei Generationen oder mehr, um solche Zeiten objektiv und ohne Hass zu beleuchten. Löschs Inszenierung bewegt sich trotz allen Bemühens um verschiedene Blickwinkel noch stark auf der Ebene des blanken Furors, des Hasses und der Rachegelüste.
Aber es gibt eine berührende Szene in Löschs Wutbürger-Inszenierung: Es ist Ismenes Mauerschau, in der sie einen verzweifelten Kreon auf dem Weg zu seinen Opfern, zu seinem toten Sohn Haimon und dessen aufgehängter Verlobter Antigone beschreibt. Kreon begräbt nun die Leiche des Polyneikes. Die Ismene-Darstellerin zündet die drei Kreons später an. Obwohl sie längst ohne Anhänger, ohne Reich, ohne Stadt, ohne Söhne, ohne Frauen sind. Auge um Auge, Zahn um Zahn also. Für die Opfer ist es eine Art Teufelsaustreibung: Kreon und die uruguayischen Diktatoren haben keine Macht mehr, über niemanden. (Was aber, wie wir wissen, in der Realität eine Illusion ist.)
Lösch lässt Flugblätter verteilen, in denen der Präsident des Staates Uruguay zur Rücknahme des „Hinfälligkeitsgesetzes“ zur Amnestie der politischen Verbrecher aufgefordert wird. Fraglos müssen deren Menschenrechtsverletzungen rückstandslos aufgearbeitet werden. Für die politische Hygiene ist es im Land auch nach 30 bis 40 Jahren erforderlich, die Täter nicht nur aus verantwortlichen Positionen in Politik und Wirtschaft zu entfernen, sondern sie zu bestrafen. Schließen wir uns also dem Aufruf der wütenden Frauen an den Präsidenten an, mit dem sich die Inszenierung für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich direkt in die uruguayische Tagespolitik einmischt, der Forderung nach einer Art Nürnberger Prozess – rückhaltlos gegenüber dem System, mit Augenmaß gegenüber dem einzelnen. Und da die Inszenierung selbst schon Zwischentöne oder gar Poesie vermissen lässt, tun wir es mit dem Protestsong, der zum Symbol für die Kritik am Hinfälligkeitsgesetz geworden ist und der in Löschs Inszenierung anklingt: A Redoblar! (Link zum Protestsong hier)
Oder tun wir es mit José Carbajals „Angelitos“, dem Lied auf die während der Diktatur verschwundenen Kinder. Spätestens das treibt uns die Tränen in die Augen: (Link zu diesem Lied hier)