Übrigens …

Zimmer Nummer sechs im Köln, Freies Werkstatt-Theater

Gulag ist nicht weit

Spezialitäten des Freien Werkstatt Theaters in der Kölner Südstadt sind Dramatisierungen von Prosatexten. Sie stammen in der Regel aus der Feder von Dramaturg Gerhard Seidel, vor kurzem (mit seiner Kollegin Inken Kautter) zum Leiter des Theaters aufgestiegen. Beide lösen Ingrid Berzau und Dieter Scholz ab, die sich künftig auf die Arbeit mit dem Altentheaterensemble beschränken wollen, ebenfalls eine Spezialität des Hauses. Die „Neuen“ möchten natürlich neue Akzente setzen. „Junge Regie“ hieß es beispielsweise im März mit zwei Inszenierungen aus dem Umfeld der Folkwang Universität der Künste In Essen (Penthesilea, Der jüngste Tag). Das FWT setzt also auf Lebendigkeit.

Zimmer Nummer sechs, die aktuelle Produktion, basiert auf Anton Tschechows Erzählung Krankenzimmer Nummer sechs (das FWT verkürzt nicht ganz einsichtig den Originaltitel). Dieses Krankenzimmer gehört zu einem Spital in der russischen Provinz. Hier werden Menschen interniert, die eine „Macke“ haben. Tschechow, praktizierender Arzt im Hauptberuf, hat diese Elendssituationen hautnah kennengelernt. Er reiste sogar zur Sträflingsinsel Sachalin, um die dortigen Verhältnisse zu studieren.

Als Autor flog er gewissermaßen über das Kuckucksnest und gab Bericht über inhumane Verhältnisse im zaristischen Russland. Während man heutzutage mit psychischen Störungen sensibel umgeht, wurden damals Abweichungen vom Normalverhalten geahndet und Betroffene in die Quarantäne abgeschoben. Tschechows Andrej Jefimitsch Ragin betreut eine solche Gruppe, ohne sich deren Leiden wirklich zu öffnen. Erst als er in Ivan Dimitritsch Gromow einem erkennbar intelligenten, freilich auch rebellischen Menschen begegnet, beginnt er über seine Arbeit nachzudenken, an seiner „Mission“ zu zweifeln. Er lässt sich auf diesen Kontakt schließlich so intensiv ein, dass er von seiner fachmedizinischen Umgebung argwöhnisch beäugt wird. Zuletzt trifft es ihn wie die bereits Eingeschlossenen: er wird als Schizophrener eingestuft und kommt ebenfalls in die Klapsmühle - eine Gulag-Situation.

Sie wird von Erik Salvesens Ausstattung sogleich eingefangen: muffiges Zimmer, wo durch die Dachdecke der Regen tropft. Ein Heiligenbild gehört zwangsläufig zum Inventar. Die Peitsche von Nikita, der Wärterin (bei Tschechow männlich) fordert zu ständiger Devotion auf. Am Schluss wird sie Ragin in die Rolle eines Patienten zwingen. Diesen Leidensweg zeichnet Kai Hufnagel ausgesprochen beklemmend nach. Ein Ausbruchsversuch aus all dem Schlamassel durch die Begegnung mit einer Dame (mit dem Hündchen, eine Tschechow-Interpolation) misslingt.

Die Inszenierung von Ulrich Meyer-Horsch macht das Beklemmende der Situation deutlich, umgeht dabei aber nicht das Groteske der Vorgänge. Till Brinkmann ist als aufbegehrender Gromow ein ebenso vitaler Darsteller wie Kai Hufnagel. Aber auch die Leistungen von Doris Plenert. Franziska Schmitz und Lucas Sánchez prägen die (am zweiten Vorstellungsabend nota bene bescheiden frequentierte) Aufführung nachdrücklich.

Das FWT bietet keineswegs die erste Dramatisierung von (Kranken)Zimmer Nummer sechs. Aus Anlass von Tschechows 100.Todesjahr widmete sich bereits Dimiter Gotscheff am Deutschen Theater Berlin dem Sujet, wobei er - gemäß repräsentativer Kritik - „die gesamte Enzyklopädie des Dichters aktivierte“. 2012 sah man in Dresden im Rahmen einer „St. Petersburg Theaterspielzeit“ die Version des Andrej-Mironow-Theaters. Es gibt auch noch einen Film von Karen Schachnasarow.