Übrigens …

Gabe/Gift im Köln, Schauspiel

Zehn Personen suchen eine Kiste

Das Schauspielhaus am Kölner Opernplatz wird derzeit saniert; neue Produktionen und alte Repertoire-Vorstellungen müssen in Ersatzspielstätten oder eben – wie im Falle von Gabe/Gift - in die Zweitspielstätte, die rechtsrheinische Halle Kalk, ausweichen. Dass aber der Sanierung des Hauptgebäudes auch der atmosphärisch immer ein wenig merkwürdig anmutende „Erfrischungsraum“ zum Opfer fiel, hat den Händl Klaus nicht ruhen lassen. In seinem jüngsten, in Köln zur Uraufführung gekommenen Stück macht die Familie Müllert den vergeblichen Versuch, ihn in ihrem Keller wieder auferstehen zu lassen.

Denkt man an diese endgültig dahingeschiedene Zuschauer-Kantine im alten Haus zurück, so kommt es einem ganz logisch vor, dass Christoph Marthalers Haus- und Hof-Bühnenbildnerin Anna Viebrock deren Auferstehungsversuch bühnenarchitektonisch und kostümbildnerisch koordiniert (und auch gleich die Regie der Uraufführung mitübernimmt): Im altmodischen Ambiente des ehemaligen Café-Restaurants konnte sie sicher Anregungen für ihre surrealen düsteren Bühnen-Welten finden. Renoviert wird jetzt bei Händl/Viebrock ebenfalls: Nikolaus Benda als Bert Müller hat die Anstreicher-Rolle in der Hand und spricht, was wir an diesem Abend selten zu hören bekommen werden: einen vollständigen Satz. Fast ein Poet ist der Bert: „Und Mutter du hast uns den Kleber gerührt und jetzt wird er verstrichen.“

Damit aber genug der Parallelen zwischen dem realen Köln und dem fiktiven Müllertschen Keller: Nicht nur dass der Keller deutlich unwirtlicher aussieht als der gemütliche Ausschank am Opernplatz, nein: Dort hat auch selten eine mittelalte Nachbarin auf dem Bauch gelegen und Leiche gespielt. Oder ein fetter Polizist unterm Tisch geschlafen. Der Polizist ist Otto, Vater von Bert, und die beiden werden einander in Kürze gegenseitig besteigen – inzestuöse Beziehungen sind in der Polizistenfamilie nicht ausgeschlossen, ödipale Gelüste werden angedeutet, aber nichts Genaues weiß man nicht. Bert ist übrigens Landschaftsgärtner – kein Mensch klimpert an diesem Abend Element of Crime, aber „wo die Neurosen wuchern, da will ich Landschaftsgärtner sein“, hat offenbar nicht nur deren Texter und Leadsänger Sven Regener erwogen. Berts Angetraute, die wiederum Polizistin ist, trifft im Wald das Pärchen Ines und Markus, über dessen Schlafsack wir schon auf dem Weg zu unseren Sitzplätzen beinahe gestolpert wären. Die beiden sind offenbar auf Schatzsuche. Ihre Schatzkarte ist die – eher unfreiwillige – Gabe an die Familie Müllert, die sich der Suche nun anschließt („Wollen wir greifen zum Spaten“ skandieren die Abenteurer, und schon holt Bert ne Spitzhacke); inwieweit die Gabe einfach nur auf englisch Gift heißt oder gar ein vergiftetes Danaergeschenk ist, ist in der Kölner Aufführung schwer zu durchschauen. Nachbarfamilie Zilcher taucht auf, beschwert sich über die Grabungen und begleitet die anderen fortan beim Buddeln. Zehn Personen suchen eine Kiste, und kaum ist sie gefunden, verschwindet die ganze Combo nach und nach im Off, und alle lallen langsam ihre Stimmorgane leer. Lalelu, keiner hört mehr zu. Im Händl Klaus’schen Text beginnt der Raum zu strahlen, und es entweichen Sprache und Leben aus den seltsamen Menschen, die wir siebzig Minuten lang beobachtet haben. Da war wohl doch Gift in der Kiste. In Köln verstehen wir das aber nicht so recht, und die – wohl auch politisch gemeinte – Pointe verpufft.

Wir sind nicht unfroh, dass die Angelegenheit zu diesem Zeitpunkt zu Ende ist, denn irgendwie trägt das ganze skurrile Geschehen zum Schluss nicht mehr. Dabei haben Aufführung und Stück ihren Reiz. Händl nennt es ein „Stück für Musik“, und tatsächlich ist es geschrieben wie eine Partitur. Fast alle Sätze, manchmal gar einzelne in ihre Silben aufgeteilte Wörter werden mit verteilten Rollen gesprochen; zwischendurch, manchmal auch begleitend hören wir die von Ernst Surberg komponierte und von ihm selbst am Keyboard sowie von Simon Strasser auf der Klarinette live performte Musik. Das ergibt eine höchst schräge Atmosphäre; die oft banale, oft aber auch verquere und künstlich aufgeteilte Sprache sowie die nicht gerade eingängige Musik entfalten in etwa die Wirkung, die reinrassige Zwölfton-Musik auf einen Freund des Wiener Walzers hat. Sie entfalten aber auch Witz – sei es platter Comedy-Witz wie Marion Breckwoldts ekstatischer spitzer Schrei, als sie den Tresor entdeckt, sei es Witz aufgrund von Überraschungseffekten, wenn der anfänglich vermutete Sinn eines Satzes durch den ihn vollendenden Schauspieler umgekehrt wird: „Wir“ sagt Schatzsucher Renato Schuch als Holtz; „sind“ ergänzt Jennifer Frank als seine Freundin; „verwarnt“ ergänzt wie selbstverständlich Julia Wieningers Polizistin. Solche Effekte erleben wir immer wieder, und sie reizen zum Lachen.

Sie tragen aber eben nicht über siebzig Minuten. Die Langsamkeit, in der solche Sätze teilweise zusammengestellt werden, erhöht den Überraschungseffekt; möglicherweise haben aber auch die Kritiker recht, die glauben, mit mehr Tempo würden Plot und Aufführung unterhaltsamer und konsumierbarer. Aber weder Händl Klaus mit seinem Stück noch Anna Viebrock mit ihrer Inszenierung haben auf die Quote geschielt. Das Stück ist ein Experiment, und die Inszenierung vermutlich ein Minderheiten-Programm – so recht gelungen ist sie nicht, aber ein interessantes Gebilde ist sie schon, und es gibt Momente, da entwickelt sie einen regelrechten Zauber. Man kann die einzelnen gelungenen Miniaturen genießen, wenn schon das große Ganze nicht fesselt. Von diesen Miniaturen gibt es eine beachtliche Zahl. Ob es die aus den körperlich kleinsten Mitgliedern des Kölner Ensembles formierte Familie Zilcher ist, die einem Bild von George Grosz entsprungen scheint, wenn sie neugierig ins Zimmer lugt; ob es die beiden Ur-Schatzsucher und die Polizistin sind, die auf dem gurgelnden, vom Krematorium gespeisten Heizkörper stehen und sich über das Sterben unterhalten; ob es die teilweise rätselhaft verstiegene Sprache oder der manchmal eben doch sehr gelungene Rhythmus von Text und Musik ist – immer wieder spüren wir das Potenzial, das in diesem Text, aber auch in dieser Aufführung liegen könnte.

Der Schatz dieses Stücks wird nicht wirklich gehoben. Aber lallend aus der Halle treibt uns die Inszenierung auch nicht. Was wohl werden künftige Regisseure aus Händls schwieriger Versuchsanordnung machen – mit mehr Tempo vielleicht, mit mehr Abgründen? Vor allem mit einem Ende, das auch der unvorbereitete Zuschauer kapiert? Das Stück wirkungsmächtig zu inszenieren, dürfte eine enorme Herausforderung sein – ganz anders als, aber eben doch genau so schwierig wie bei Wolfram Lotzs angeblich uninszenierbaren Nachrichten an das All. Da hat es ja inzwischen zweimal geklappt. Warum soll das bei Händls Gift-Musik nicht auch funktionieren?