Medea - eine Monstretragödie
Sechs Medeen sah ich in den vergangenen sechs Jahren, je drei von Grillparzer (u. a. im Rahmen des kompletten Goldenen Vlieses) und drei von Euripides. Mindestens vier davon waren Migrationsdramen, zwei bis drei waren Familien-Soaps, eine war ein Mafia-Krimi, und Karin Beiers Medea innerhalb ihres Goldenen Vlieses war ein großes Gesamtkunstwerk, ein Solitär auf einer höheren Ebene, der von allem etwas hatte. Sie alle hatten aktuelle Bezüge, eine spielte gar dezidiert im 21. Jahrhundert, und die anderen boten dem 21. Jahrhundert praktisches Anschauungsmaterial zur (Über-)Lebenshilfe. Und nun kommt Michael Thalheimer daher mit seiner inzwischen zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Frankfurter Inszenierung und mit der bei der Wahl zur deutschsprachigen Schauspielerin des Jahres 2012 für diese Rolle auf Platz zwei gelandeten Constanze Becker in der Titelrolle. Staunend konstatieren wir: Es gibt wieder Anschauungsmaterial: nämlich dazu, wie die alten Griechen das wohl gemacht und gemeint haben könnten. Als Monstretragödie. Mit archaischer Wucht. Ganz streng, ganz klassisch, ganz konzentriert.
Thalheimer ist bekanntlich der Meister der Reduktion – und der kalten, stilisierten, wie am Reißbrett entworfenen Darstellung. Vor genau zehn Jahren war seine Hamburger Emilia Galotti beim Duisburger Theatertreffen zu Gast gewesen: im kalten Bühnenbild desselben Olaf Altmann, der auch bei Medea wieder für die glatte, graue, leere und doch so wuchtig einschüchternde Bühne gesorgt hat. Die Duisburger dürften sich daran erinnert haben: an die in immer gleichen Bahnen in exakter Choreografie sich bewegenden Figuren, die trotz der temperamentvollen, durchaus gefühlsstarken Galotti-Handlung einander nicht einmal berühren durften. Mehr noch aber erinnern wir uns an den Soundtrack der Thalia-Aufführung: Die Auftritte wurden vom immer gleichen Motiv aus Wong Kar-Wais In the Mood for Love untermalt, auch dieses kühl, aber suggestiv und süchtig machend. Bei Medea nun fehlt auch der Soundtrack. Noch strenger, noch stilisierter wirkt diese Inszenierung.
Sie wird zu einer exemplarischen, aber nicht zu einer empathischen Beschäftigung mit dem Stoff. Sprechtechnik, Bewegungen und Gebärden sind detailgenau gezeichnet, drücken demonstrativ in künstlerischer Pose seelische Zustände und Verkümmerungen oder taktisches Verhalten aus. Wieder sind die Auftritte der Figuren streng choreografiert; weiten Abstand halten die Protagonisten zueinander, kaum einmal scheinen sie miteinander zu interagieren: Einsame Gestalten sind sie allesamt. Den weitesten Abstand zum Zuschauer hat während der ersten sechzig Prozent der Spieldauer ausgerechnet Constanze Beckers Medea: Wie, fragt man sich anfänglich, kann eine Schauspielerin zur zweitbesten des Jahres prämiert werden, die wir selbst aus Reihe 2 nur mit dem Fernglas sehen? Ganz hinten vor der Brandmauer liegt sie auf einem hohen, in Altmanns Bühnen-Einheitsgrau gehaltenen schmalen Podest, das die gesamte Breite der Bühne ausfüllt: Schmutzig, mit zerlaufenem Kajal und blutigen Schrunden schon zu Beginn barmt und jammert und wütet und hasst sie. Bittet und fleht gelegentlich auch, wobei der großen, starken Constanze Becker das Flehen erheblich weniger steht als das Hassen oder der bittere Sarkasmus. Soweit sie auch entfernt ist: sie erreicht uns durch die Kraft ihrer Sprache, ihrer Stimme. Thalheimer und seine Protagonisten haben keine Angst vor Pathos, sie holen alles aus dem Text heraus, was an archaischen Gefühlen und Konflikten darin zu finden ist. Manchmal auch das banale Intrigantentum und die Mordlust: „Glaubt ihr denn, ich hätte ihm (Kreon) geschmeichelt, wenn ich nicht was erreichen wollte? Drei Feinde mach‘ ich heute noch zu Leichen.“
Nach ca. 70 der 120 Minuten fährt die Wand mit dem Podest zügig und grollend nach vorn, ganz nah an die Rampe, und nun rückt uns die Rachefurie und kompromisslose Intrigantin bedrohlich auf die Pelle. Jetzt hat Becker die Gelegenheit, uns auch emotional zu packen – und uns die Vielschichtigkeit ihrer Darstellung zu zeigen. Wenn sie in vorgeblicher Selbstanklage und scheinbar zerknirscht sich immer wieder mit den Händen ins Gesicht schlägt, schauen wir in ihre Augen: sie blicken klar, selbstbewusst und unerbittlich hart. Möglich, dass diese Medea eine große Liebende ist, die nur durch die ihr zugefügten seelischen Verletzungen zur Furie wird – aber im Vordergrund dieser Inszenierung steht die Megäre, die zu unmenschlicher Rache fähige hassende Fremde: „Sowas hätte eine Griechin nie gewagt“, sagt Jason nach Medeas Mord an ihren Kindern und an seiner zweiten Gattin. Das für einen Griechen Fremde an ihr liegt allerdings weniger in Medeas ethnischer Herkunft begründet als in ihrem unmäßigen Stolz und ihrer konsequenten, zerstörerischen Reaktion auf ihre ungerechtfertigte Zurückweisung.
Ungerechtfertigt? Jason gibt die Hinwendung zu einer neuen, griechischen Ehefrau und Königstochter als weise Staatsraison aus – und den damit verbundenen finanziellen Aufstieg als Wohltat für die Kinder: Denn „dem Armen fehlt es an Respekt.“ – Nun, Medea hat den Respekt für Jason längst verloren: „Du, du bist kläglich“, schleudert sie ihm entgegen. Und in der Tat: Marc Oliver Schulze gibt seinem Jason eher mediokre Züge: verbogen, verrenkt kommt er daher; Rückgrat, so lässt seine Körperhaltung erkennen, gehört nicht zu seinen Stärken. Während alle anderen Figuren in Schwarz oder Grau gekleidet sind, trägt Jason ein geckenhaftes Blau – im vergeblichen Versuch, charakterliche Schwäche durch hippe Klamotten auszugleichen. - Auch der zweite wichtige Mann in Medeas korinthischem Lebensabschnitt ist eher ein Schwächling: König Kreon ist bei Martin Rentzsch zwar äußerlich ein kräftiger bulliger Typ, doch hat auch er eher Respekt und Furcht vor der fremden Wutbürgerin als umgekehrt: Das wird ihn Tochter und Enkel kosten.
Und dann naht das Ende, und mit ihm bricht doch noch ein Soundtrack über uns herein. Es ist die zweite Szene neben der so zügig nach vorn schießenden Bühnenrückwand, die auch emotional unter die Haut geht. Wir wissen: Gleich werden Medeas Kinder ermordet, und jetzt rasen zu immer lauter anschwellender, immer schneller werdender Musik Piktogramme über die Wand: Ein Herz, ein Embryo, Blumen, Kinderspiele. Hastende, kämpfende Gestalten, Dollarzeichen, Kinderwagen. Grandios. Und erschreckend.
Diese kraftvolle, zugleich in ihrer Reduktion und ihrer Choreografie so moderne wie in ihrer Strenge und ihrem Pathos altmodische Inszenierung ist zutiefst beeindruckend, auch wenn solch kompromissloser Ernst heute nicht mehr jeden berührt. Die Aufführung fordert vom Zuschauer höchste Konzentration. Ein Unterhaltungsprogramm ist sie nicht, aber ganz großes, nahezu ehrfürchtig sich vor dem Stoff verneigendes Theater.