Und am Ende der Straße steht ein Haus am See
Oliver Reese ist zurück. Erstmals seit der Übernahme der Intendanz des Schauspiels Frankfurt inszeniert er wieder am Düsseldorfer Schauspielhaus. In den Jahren 2006 und 2007 hatte er mit zwei Bearbeitungen von Filmen bzw. Kurzgeschichten das Publikum berührt: Treulose nach einem Film von Ingmar Bergman schnürte uns mit einer tragischen Ehe- und Familiengeschichte nach und nach den Hals zu, und mit Warum tanzt ihr nicht? schuf er einen elegischen, besinnlichen, wunderbar traurigen Theaterabend, an dem er aus Short Stories von Raymond Carver ein Kaleidoskop der Liebe und ihrer Grausamkeiten aufblätterte. Beide Male handelte es sich um eher konservative Inszenierungen; großartige Schauspieler zeigten psychologisch genau gearbeitete Charaktere, und wir ahnten, dass sich hier ein Regisseur auf hervorragende Schauspielerführung und die Gestaltung von exakt kalkulierten Stimmungen verstand. Beste Voraussetzungen also für Goethes Wahlverwandtschaften – die tragisch endende Geschichte um das perfekte Paar, das sich trotz Charlottes unguter Vorahnungen leichtsinnig über Kreuz in seine Gäste verliebt.
Hatten die Treulosen und der Carver noch auf vergleichsweise leeren Bühnen gespielt, so sorgen bei den „Wahlverwandtschaften“ schon der Bühnenbildner und der Licht-Designer für die elegischen Stimmungen. Das Landgut, auf dem Eduard und Charlotte leben, liegt hier scheinbar eher an einem breiten Fluss denn an einem See; im Hintergrund schwingt sich eine hohe Brücke über das Wasser, die auch Ozeandampfer unfallfrei passieren könnten. Badeplanken führen zum Wasser, eine moderne Schwimmbad-Leiter führt hinein in die lockende Flut, leichter Morgen- oder Abendnebel verzaubert die Landschaft. Eine Platane, das Symbol der Einheit von Leben und Tod, rundet den perfekt romantischen Urlaubsprospekt ab, der zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit eine neue, aber stets sogkräftige Farbgebung erhält. Soviel Harmonie und fast schon kitschiger Naturalismus war selten im Düsseldorfer Schauspielhaus; da ist es selbstverständlich, dass die sportlich-edlen Kostüme mit ihren blassen Farbtönen perfekt auf diese Szenerie abgestimmt sind. Einschmeichelnde Musik tut ihr Übriges. Ein bisschen denkt man an Éric Rohmer, Pauline am Strand, auch wenn Charlotte für die Pauline ein wenig zu alt und Ottilie für die Pauline ein wenig zu schüchtern ist.
Diese Ottilie ist so etwas wie die Entdeckung des Abends. Mareike Beykirch ist vor allem im nonverbalen Spiel umwerfend: Sie gibt Charlottes mittellose Nichte, die im Pensionat nicht recht glücklich geworden war, als eine unbeholfene, staksige Klosterschülerin am Beginn der Pubertät: Unsicher und kindlich in ihren Gesten, nicht wissend, wohin mit ihren Armen und Händen, gewinnt sie langsam an Sicherheit über die Sprache – das ist anrührend, und das hat Ausstrahlung. Auch gegen Ende zeigt sie auf faszinierende Weise die Zerrissenheit des jungen Menschen zwischen Kindheit, Adoleszenz und Reife: Unsicher wie ein staunendes Kind hält sie Charlottes Baby in den Armen; gleichzeitig hat sie das Strahlen einer 17jährigen beim Anblick des Neugeborenen im Gesicht und die Gedanken und Argumente jungen Erwachsenen.
Die Charlotte der Bettina Kerl lässt in ihrer Stimme insbesondere zu Beginn manchmal die Wärme und Souveränität vermissen, die sie in Goethes Roman erkennen lässt, wobei sie zunehmend mit einer leicht unterkühlten Eleganz und in keiner Weise angeberischem Selbstbewusstsein für sich einzunehmen weiß. Auch kann sie, als es um die Trennung von Eduard geht, wütend, drängend und entschlusskräftig werden; kokett blinzelt sie nach der Pause hochschwanger ins Publikum und futtert ihren Schwangerschafts-Joghurt – in solchen Momenten wirkt Bettina Kerls Charlotte deutlich moderner als in Goethes Original, und mehr als die übrigen Figuren verkörpert sie Reeses Konzept der Heranführung der Geschichte an die Gegenwart bei gleichzeitiger Beibehaltung von Goethes Sprache. Eduard erscheint bei Andreas Patton als der perfekte Sanguiniker: ausgeglichen im Auftreten, positiv auf seine Mitmenschen zugehend, niemals aus der Haut fahrend, schnell verliebt und ohne allzu viel Tiefgang. Ihm gehört auch der schönste Satz des Abends: „Ich will denjenigen von euch sehen, der mich im Talent der Liebe übertrifft. Ich will die Scheidung.“ (Seltsamerweise hat keiner gelacht.) Andreas Galke als Hauptmann ist ein sehr heutiger, geerdeter, professionell agierender Meister der Planung und der Gartenarchitektur – was Charlotte allerdings dazu bewegt, ihm größere Liebe entgegenzubringen als dem attraktiveren, phantasievolleren Eduard, bleibt ein wenig schleierhaft.
All diese Figuren werden wohldurchdacht und oft mit tieferer Bedeutung in das harmonische Bühnenbild platziert oder zueinander in Stellung gebracht, und sie agieren und argumentieren noch in den tiefsten Liebeswirren mit der Gelassenheit und Eleganz, mit der der olle Goethe sie halt ausgestattet hat. Nur die meist ganz hinten am Seeufer sitzende Erzählerin, die den Gang der Handlung erläutert, wirkt ein wenig manieriert; Marianne Hoika gelingt dabei aber eine wunderbare kleine Karikatur, als sie kurz in die Rolle des das Landgut besuchenden Generals schlüpft.
So moniert denn der eine oder andere, Reese habe den Goethe auf Fernsehspiel-Niveau heruntergedimmt. Na ja, ein bisschen Courths-Mahler ist ja tatsächlich drin in der alten Geschichte. Schön ist das schon; die Harmonie der Inszenierung wickelt das Publikum in Watte ein und beruhigt seinen revolutionären Geist. Dass Oliver Reese die Geschichte auf die beiden Paare reduziert und alle Nebenfiguren gestrichen hat, stört ebenso wenig wie die etwas oberflächliche Behandlung der Goethe‘schen Parabeln und Gleichnisse – geben wir’s zu: Die langatmigen Vergleiche mit Vorgängen und Zusammenhängen aus Natur und Chemie haben viele der Nicht-Germanisten oder -Naturwissenschaftler unter uns beim Lesen des Romans eher ins Holpern als ins tiefe interpretatorische Grübeln gebracht. Wer sie beim Lesen überlesen hat, isst bei Reese nicht vom Baum der Erkenntnis. Das mag man als Schwäche der Inszenierung auslegen. Dem Düsseldorfer Schauspielhaus, dem weite Kreise des Stammpublikums zuletzt eine zu einseitige Konzentration auf schwere Problemstücke vorwerfen, könnte mit der Inszenierung jedoch ein weiterer Schritt zur Versöhnung der allzu tiefem Pessimismus abgeneigten und allzu viel Experimentellem überdrüssigen zahlenden Kundschaft gelingen. Langfristig darf‘s aber gern mal wieder ein Problemstück sein…