Übrigens …

Clockwork Orange im Schauspiel Essen

Sonde ins Hirn

„Der Papst hat nicht immer recht“, bemerkte der Hirnforscher Manfred Spitzer vor einigen Jahren schmunzelnd in seinem spritzigen, in höchstem Maße unterhaltsamen Vortrag über die jüngsten Erkenntnisse der Neurowissenschaften an der Akademie Schloss Krickenbeck in Nettetal. Spitzer sprach über Oxytocin, ein Neuropeptid aus der Gruppe der Proteohormone. Es wird auch Bindungshormon genannt, denn es verstärkt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem anderen Menschen – und zwar zuvörderst zum Sexualpartner, denn ausgeschüttet wird das Hormon beim Geschlechtsverkehr. Wenn also, so Spitzer, die Phase der großen Verliebtheit sich nach einer durchschnittlichen Dauer von 17 Monaten dem Ende zuneigt, so muss dies nicht das Ende der Beziehung bedeuten – vorausgesetzt, man hat bis dahin oft genug gepoppt. Vorehelicher Geschlechtsverkehr sei also dringend empfohlen.

Über Oxytocin doziert zu Beginn der Aufführung am Schauspiel Essen auch Daniel Christensen alias Professor Paul J. Zak, Gründer des Zentrums für Neuroökonomische Studien an der Claremont Graduate University in Kalifornien. Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung firmiert unter Clockwork Orange von Anthony Burgess, ist aber de facto eine Art „science lecture“, die sich in ihrer Struktur an den Verlauf von Burgess‘ Roman anlehnt. Die fast 15minütige Einführung über die Hirnforschung und die Funktionen des Oxytocin ist ähnlich unterhaltsam gestaltet wie weiland der Vortrag von Professor Spitzer: Christensen erzählt in lockerem Ton und perfektem amerikanischem Englisch, Bettina Schmidt dolmetscht mit gelegentlichen lustigen Fehlern und Verwirrungen. Nebenbei erfahren wir, dass ein hoher Oxytocin-Spiegel nicht nur die Liebe und die Bindungsbereitschaft, sondern auch die innere Ruhe und Ausgeglichenheit sowie den Glauben an die Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen verstärkt: „We have a biology of trustworthiness“, stellt Paul Zak verschmitzt fest. Wir hören, dass Frauen eine kleine Mindestausstattung dieses Hormons in sich tragen, Männer dagegen nicht. Da muss man wohl nachhelfen: HEY, HIER KOMMT ALEX!

Gelbe Karte für theater:pur. Was bei Stanley Kubricks Verfilmung des Burgess-Stoffes noch eine ungeheure Provokation war, ende bei den Toten Hosen auf Kindergartenniveau, schimpft Schmidt-Rahmer. Genau da will er nicht hin. Drum kommt Alex bei ihm in mehrfacher Ausfertigung: Alle männlichen Darsteller des Abends verkörpern „Alexander“, aber auch seine Droogs; Tom Gerber allerdings vorrangig die seriösen Figuren. Und drum nutzt Schmidt-Rahmer den Roman resp. den Film nur als Folie für eine Art Wissenschafts-Show, die bewusst ein wenig ratlos Fragen aufwirft zur Therapierbarkeit jugendlicher Gewalttäter. Die Droogs quälen und foltern eine Familie, sie berauschen sich vor der psychedelischen Videobild-Kulisse von Karolin Killig an ihren Drogen-Cocktails und reden dabei ab und zu so viel in Alex‘ russifiziertem „Nadsat“-Jargon, dass man nur Bahnhof versteht. Und da werden junge Gewalttäter jedweder Herkunft und Sozialisation vorgeführt: Aggressive Migrantenkinder, Drogensüchtige, unreflektiert islamistische Parolen brüllende Fanatiker, beziehungsunfähige Kinder mit einer angeborenen Unfähigkeit, mitleidsauslösende Signale zu erkennen etc.. Sie liefern selbst Erklärungsmodelle: ADHS, Wohlstandsverwahrlosung, mangelnde Integration; Therapeuten und Sozialarbeiter repräsentieren den gutmenschelnden Sozialstaat, aber auch die Freunde von Klartext wie die extrem engagierte, oft angefeindete Jugendrichterin Kirsten Heisig, die ihrem Leben vor drei Jahren selbst ein Ende setzte, und der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky kommen zu Wort, wenn Silvia Weiskopf gegen das „sozialpädagogische Rehabilitations-Trallala“ wettert und mit Buschkowsky feststellt: „Jede Gesellschaft hat ihren Bodensatz.“

Spannend ist die Ratlosigkeit, aber auch die Abkehr von politisch korrekten Sozialarbeiter-Utopien, die Schmidt-Rahmer erkennen lässt. Die bisherigen Versuche der Gesellschaft, das Phänomen Gewalt in den Griff zu bekommen, betrachtet der Regisseur offenbar als wenig zielführend; angesichts der Erkenntnisse der Hirnforschung, denen zufolge unser Gehirn vollständig durch seine Zustände und durch neuronale Prozesse determiniert ist und es einen freien Willen nicht gibt, glaubt er nicht an die Erfolgschance der klassischen Therapie von Gewalttätern mit Hilfe von Strafe, Psychotherapie oder gruppendynamischen Projekten. Der „extrem verführerische“ Gedanke, mit Hilfe neurobiologischer Eingriffe bis hin zur Implantation einer Elektrosonde die Gewaltneigung beseitigen zu können, wird zumindest in Betracht gezogen. Wohlfeile Lösungen aber gibt es nicht – Ironie zieht sich durch die Aufführung; die Tiraden der marodierenden Unterschicht wirken in ihrer Verdichtung überzeichnet, und wenn die drei Alexanders nach erfolgreicher Gehirnwäsche (Implantation der Sonde!) plötzlich ihren Familiensinn entdecken, die Machos plötzlich Elternzeit nehmen wollen, nicht mehr an den optischen Reizen, sondern den inneren Werten einer Frau interessiert sind und Daniel Christensen am Piano in vollendeter Harmonie Imagine von John Lennon anstimmt, dann scheint tatsächlich der neue Mensch erschaffen – unwillkürlich denken wir, auch hinter ihm könne sich ein Frankenstein-Monster verbergen, das Monster des Gutmenschen. Und wenn im letzten Clockwork-Segment die alten Männer auf ihr Leben zurückschauen, dann sprechen hinter unbeweglichen Masken verzerrte Stimmen in einem Wohnzimmer, in dem das Kaminfeuer nur noch auf einem Bildschirm leuchtet – schöne neue synthetische Welt. Wollen wir das? - Aber dank der Neurobiologie, daran lässt Schmidt-Rahmer auch in einem im Programmheft abgedruckten Interview keinen Zweifel, stehen wir „an einer Epochenschwelle“; dass ihre Erkenntnisse zumindest bis zu einem gewissen Grade auch bei der Gewaltprävention nutzbar zu machen sind, scheint diese Aufführung zu belegen.

Es sind also hochspannende, hochaktuelle wissenschaftliche und philosophische Themen, die die Inszenierung verhandelt. Burgess‘ Clockwork Orange ist nur der Lockvogel fürs Publikum. Leider bleibt die Inszenierung jedoch über weite Strecken eine Kopfgeburt. Die Gewalt, die die Alexanders ausüben, ihre Wut- und Hasstiraden wiederholen sich in Endlosschleifen ohne größere Varianten, häufig überfrachten die wissenschaftlichen Hintergrundinformationen den Abend, und die dem Theater gemäße dramatische Spannung, die zum Beispiel Schmidt-Rahmers vom Konzept her ähnlich angelegte „Ulrike Maria Stuart“ an gleicher Stelle auszeichnete, bleibt trotz teilweise expliziter Gewalt und das Publikum bewusst quälender Text- und Handlungspassagen auf der Strecke. Dem versucht Schmidt-Rahmer durch direkte Ansprache der Zuschauer entgegenzuwirken, zum Beispiel mit einem durchs Parkett laufenden Gewalttäter Christensen („schauen Sie, wie die Gewalt durch die Reihen der Gesellschaft läuft“). Doch oft bleibt diese Ansprache auf dem Kindergartenniveau, das er den Toten Hosen vorwirft: Die kollektive Massenumarmung zur Freisetzung von Oxytocin funktionierte zwar in der Premiere tadellos, war aber doch ein wenig kindisch. Immerhin haben wir gelernt: Acht solche innige Umarmungen decken in etwa unseren täglichen Bedarf für das Bindungs- und Moral-Hormon: Springen Sie also auf und knuddeln Sie den nächsten Menschen, den Sie sehen!