Über den Alltag der kleinen Leute
1973 konnte der fünfzigjährige Industriekaufmann Karl Otto Mühl mit der Wuppertaler Uraufführung von Rheinpromenade einen sensationellen Erfolg verbuchen. Noch in der gleichen Spielzeit wurde das Stück über die Alltagsprobleme, die Sehnsüchte und die Ängste der kleinen Leute in mehreren Theatern nachgespielt und von Funk und Fernsehen übernommen. Karl Otto Mühl verzichtet auf die große dramatische Form, er erzählt banale Alltagsgeschichten, die gesellschaftliche Normen und Verhaltensweisen schnappschussartig erfassen, in Form eines szenischen Bilderbogens. Sein Kommentar: „Ich denke, dass Theater Erkenntnishilfen geben kann, dass Situationen einsehbar gemacht werden. Probleme auf dem Theater lösen zu wollen, halte ich für kindisch“.
Das Schauspiel Köln hat von Karl Otto Mühl das frühe, umfangreichere und unveröffentlichte Original von Rheinpromenade erhalten, welches die junge Regisseurin Nora Bussenius mit viel Liebe zum Detail inszenierte. Wobei sie den Schwerpunkt auf die psychologischen Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen legte. Ganz im Gegensatz zu der mehr politisch-kritischen Ausrichtung der vor 40 Jahren gespielten Fassung.
Rheinpromenade erzählt die Liebesgeschichte zweier Menschen, die vereinsamt sind – durch Kontaktarmut, fehlende Herausforderungen im Alltag, ein freudloses Dasein, unerfüllte Liebesbedürftigkeit. Der über siebzigjährige ehemalige Schlosser Fritz Kumetat lebt mit seiner Tochter Kläre und ihrem Mann Arnold zusammen in seinem Haus. Kläre kümmert sich wortreich um ihren Vater, ist aber primär daran interessiert, dass er ihr das Haus überschreibt. Arnold, den sein Schwiegervater verächtlich „Grießbreifresser“ nennt, will den Alten am liebsten sofort im Heim sehen, denn da ist er sich mit seiner Frau einig: „Kinder sind unangenehm, wie alte Leute“. Kumetat leidet unter der Gefühlskälte seiner meist mürrischen Tochter, die sich nur aus Pflichtbewusstsein um ihn kümmert. Als er die fast 50 Jahre jüngere Marta, eine Küchenhilfe aus dem Krankenhaus, kennen lernt, beginnt eine zögerliche Liebesbeziehung. Marta hat Angst vor dem Gerede der Leute ob der Affäre mit einem so viel älteren Mann. Und doch öffnet sie sich den vorsichtigen, unbeholfenen Avancen Kumetats.
Nora Bussenius kann sich auf ein ausgezeichnetes Ensemble verlassen. Martin Reinke, leicht vernachlässigt gekleidet in seiner Handwerkermontur (Unterhemd und verdreckte Hose), überzeugt als immer noch lebenshungriger alter Mann, der sich trotzig der Bevormundung durch seine hyperaktive Tochter widersetzt und seine Sehnsüchte nach menschlicher Wärme, nach Liebe und Sex ausleben möchte. Ihm zur Seite hat die Regisseurin eine „zweites Ich“ (Hartmut Misgeld) gestellt, deutlich älter und deutlich ordentlicher gekleidet. Es ist eine stumme Rolle. Sein Gesicht ist in schwarz-weißer Großaufnahme - immer zu sehen.
Die kleinbürgerliche Welt wird treffend dargestellt durch eine übergroße Regalwand. Dominierend hier die Farbe Orange, typisch für den eigenwilligen Farbgeschmack in den Siebzigern. Küchengeräte, ein Telefon mit Wählscheibe, Plastiksitzhocker, alles in Orange, füllen zusammen mit gemusterten Socken und anderem Krimskrams ein großes Fach.
Tochter und Schwiegersohn (Michael Weber gibt ihn als spießigen, alles kritisierenden Bücherwurm) leben in einem Fach beengt mit Kühlschrank. Kumetats längst verstorbene Frau (Helga Kersting) residiert ganz oben und strickt fortwährend an einem dicken Wollschal, natürlich in Orange. Akustische Zeitbezüge werden sparsam gesetzt: man hört eine Tagesschaumeldung zum SALT-Abkommen zwischen Nixon und Breschnew und ab und zu das Pausenzeichen des WDR-Radios. Aufkeimende Lebenslust wird signalisiert durch das Abspielen alter Hits wie „Kasatschok“ und „Let’s twist again“. Anrührend wie Reinke zu seinen Gefühlen steht und zugleich die Angst vor Alter und Tod vermittelt. „Man wird gar nicht alt, man bleibt der selbe“, sagt er trotzig. Zum Ende findet er sich nach einem Schlaganfall im Krankenhaus wieder, wo ihn Kläre besucht – um den Verbleib der Sparbücher zu klären. Auch Marta (sehr eindringlich als total unsichere, gehemmte junge Frau: Marina Frenk) besucht ihn und soll für ihn auf die Kirmes gehen. Mit dem Evergreen „Seasons in the Sun“ klingt ein Abend aus, der besticht durch die genauen Beobachtungen zwischenmenschlicher Beziehungen, wo Angst und Unsicherheit dominieren.
Viel Applaus bei der Premiere für den anwesenden Autor, für Regie und Ensemble.