Stadtteilorakel
Kronenberg, im Volksmund „Hungerhügel“ genannt, ist ein traditioneller Arme-Leute-Stadtteil an der westlichen Peripherie der Aachener Innenstadt, in Sichtweite der niederländischen Grenze. In den 60erJahren etablierte die Stadt hier ein Modellprojekt, schuf bezahlbaren Wohnraum für Migranten und sozial Schwache mit eigener Infrastruktur. Mittlerweile ist die Schule geschlossen und die Kirche Teil einer Großgemeinde geworden. Das Einkaufszentrum hat man abgerissen und stellt Eigentumswohnungen hin. Die alten Mietshäuser riechen nach Verfall.
In diesem städtebaulichen Kleinklima ereignet sich das diesjährige Stadtteilprojekt des Theaters Aachen, zum vierten Mal in Zusammenarbeit mit dem THEATERausBruch, einer stets on Location produzierenden Aktionstheatergruppe, die vordringlich mit Laienspielern arbeitet.
Man begann mit einer mehrmonatigen Recherche, befragte Menschen aus dem Viertel – den letzten Kneipenwirt, Geistliche, Schüler, einen Künstler u. a. – über ihre Lebensumstände und, buchstäblich, über Gott und die Welt. Zu dieser Materialsammlung suchten dann Martin Goltsch, Regisseur und Kopf von THEATERausBruch, Lukas Popovic, Dramaturg am Aachener Theater und die Theaterpädagogin eine passende Form bzw. Fabel und wurden überraschend in der griechischen Antike fündig, bei Sophokles‘ Ödipus.
Das Ergebnis der langfristigen Recherche- und Probenarbeit nennt sich King’s Fate und wird im „Backenzahn“, der wegen ihrer ulkigen 60erJahre-Bauweise im Volksmund so genannten Hubertuskirche auf Kronenberg gespielt.
Der Altarraum ist leergeräumt. Man hat eine kleine Bühne installiert. Bespielt wird aber auch der Raum dahinter und die Bänke drumherum. Auf die weiten, leeren Waschbetonwände werden immer wieder Textpassagen und weidende Schafe projiziert und, zu Beginn und zwischen den Szenenkomplexen, ausgewählte Ausschnitte aus den filmischen Protokollen der erwähnten Gespräche. Deren Stoßrichtung ist die größte Überraschung des Abends. Es wird hier nicht über die Verödung des Stadtteils geklagt oder die Lokalpolitik angeklagt. Und es wird schon gar kein solidarischer Geist der Sozialgemeinschaft beschworen (was die Aufführung als Ganzes betrachtet auf schöne, unaufdringliche Weise tut). Die Kronenberger zielen höher und niedriger. Das ökonomisch dominierte System klagen sie an, die Entfernung politischer Prozesse von den Menschen. Und sie decken ihre einzige Strategie auf: individuelle Stärke. Ziele muss man haben, wissen, wer man ist, wissen, woher man kommt. Dann hat man eine Chance „gegen“ Leben und Schicksal. Eine erschütternde Diagnose, die zu Ödipus natürlich recht gut passt.
In der ersten Hälfte der Aufführung wird die Vorgeschichte erzählt, in kleinen, treffsicheren, assoziativ aus der Jetzt-Zeit entwickelten Szenen. Eine junge Frau hat ein Kind auf dem Spielplatz gefunden und will es behalten, auch um ihre Ehe zu retten. Eine andere junge Frau hat einen positiven Schwangerschaftstest gemacht. Der Mann will das Kind nicht. Die Beziehung droht zu zerbrechen. Mit dem Kurzdialog:
SOHN: Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss das Orakel fragen.
MUTTER (zum Vater): Vielleicht müssen wir mit dem Jungen doch mal zum Therapeuten.
katapultiert sich das Spiel in die Antike, mit einer mehrsprachig ausgeflippten Delphi-Fantasie.
Nach der Pause gibt es dann Sophokles‘ Stück, in neuzeitlicher Paraphrase in „verständlicher“ Sprache. Als Ödipus wechseln sich mehrere Darsteller ab. Die Geschichte vermittelt sich, der allgemeine Egoismus wird akzentuiert, die Chortexte entfalten archaische Wucht. Dennoch fehlt hier etwas, nämlich die Selbstverständlichkeit, mit der die Laiendarsteller im ersten Teil auf die Bühne gegangen sind. Jetzt machen sie „Kunst“. Jetzt müssen sie eine fremde Form füllen, in der man auch ertrinken kann. Diese Vorgabe ist doch ein wenig zu groß, schmälert den Eindruck einer wichtigen, bewegenden Aufführung aber nur minimal.