Neues aus der Anstalt
Beim Kaffee und Kuchen mit den Strafgefangenen gab es die eigentliche Uraufführung: den wohlschmeckenden „Ronsdorfer Gitterkuchen“, eine Kreation der Anstaltsküche. „Schmeckt’s?“, fragte der junge Inhaftierte beim Treffen am Kaffeespender. Und: „Hat es Ihnen gefallen?“
Es hat. Eine Stunde später als üblich und eine Stunde später als seine nicht schauspielernden Kollegen durfte der Gefangene heute seine Zelle aufsuchen. Zunächst ging es zur Premierenfeier mit Zuschauern und Wärtern. Was für ein Tag für ihn und seine Mitspieler, was für ein Tag für den Gefängnis-Pfarrer Schnitzius, der das Projekt aus der Taufe gehoben hatte, für den Anstaltsleiter Rupert Koch, für all die gut gelaunten Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt, die an der Organisation dieses ungewöhnlichen Theater-Events mitwirkten – und nicht zuletzt für die Mitarbeiter des Schauspiels Wuppertal, allen voran den Regisseur Peter Wallgram und die wie auf Wolken durchs (improvisierte) Café in der Gefängnis-Turnhalle schwebende Dramaturgin Miriam Rösch, die die Proben intensiv begleitet hatte. Zwei Jahre alt ist die JVA Wuppertal-Ronsdorf erst; 510 jugendliche und heranwachsende Gefangene sind dort untergebracht. Im Vergleich zu den Bildern, die wir von anderen Gefängnissen kennen, wirkt Ronsdorf überraschend hell, freundlich und sauber. Er sei „schon überall“ gewesen, bestätigt der junge Strafgefangene, „Bochum, Siegburg… Hier ist es besser: Nicht nur sauber, vor allem gibt es hier mehr Abwechslung, mehr Sportmöglichkeiten, mehr Veranstaltungen, Ausbildung und so weiter.“
Und jetzt gibt es Theater. Ein Gruppenerlebnis für die Inhaftierten, die nach dem Mord in der Strafanstalt Siegburg im Jahre 2006 den sogenannten „Umschluss“, den Besuch von Mitgefangenen in ihrer Zelle nur noch solo absolvieren dürfen; maximal ein Inhaftierter gleichzeitig darf einen anderen besuchen. Verschärfte Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Gefangenen – und automatisch eine weitere Einschränkung der sozialen Kontakte. Die gibt es ansonsten vor allem beim Sport. Und auf Sport mussten die jungen Schauspieler verzichten, die wie die Profis für eine Dauer von knapp sieben Wochen jeweils montags bis freitags drei Stunden lang probten, um eine 60minütige Kurzversion von William Shakespeares Macbeth einzustudieren. Und nicht nur das: Auch Besuch durften sie während dieser Zeit nicht empfangen – Freizeit ist knapp bemessen in einer JVA, und Vergünstigungen sind rar.
Und dann dieser eindrucksvolle Beginn: Acht Schauspieler sitzen auf acht Stühlen und blicken stumm ins Publikum. Nach langer Zeit beginnen sie zu summen; das Summen steigert sich zum Murmeln und das Murmeln wird zum Schreien: „Falsch ist richtig, richtig ist falsch…“ Von fern klingt Schlachtenlärm herein; die Gefangenen erheben sich und kommen auf das Publikum zu. „Falsch ist richtig, richtig ist falsch“ – das ist es, was viele der jugendlichen Gefangenen in ihrem bisherigen Leben erlebt haben: Was in ihrer Clique Akzeptanz verschaffte, war in der Gesellschaft verpönt; was sie in ihrem familiären Umfeld erlebten, war nicht das von der gesellschaftlichen Konvention geforderte Rollenmuster. Wie hatte Miriam Rösch zuvor gesagt: „Macbeth kommt aus dem Krieg. Er hat dort viele Leute umgebracht und ist ein Held. Zu Hause, als der Krieg vorüber ist, bringt er einen einzigen Menschen um – und ist ein Mörder.“ Nicht jeder blickt da noch durch.
Internalisierte Rollenzuschreibungen sind es, mit denen viele der jungen Strafgefangenen von früh auf zu kämpfen hatten. „Du wieder“, „Immer bist Du es, der…“ – negative Erwartungshaltungen der Umwelt aufgrund erster schlechter Erfahrungen mit den entsprechenden Kindern werden häufig zu einer ‚self-fulfilling prophecy’ und führen dazu, dass aus schwierigen Kindern in schwierigen Verhältnissen spätere Straftäter werden. Diesen das Erlebnis zu vermitteln, aus solchen Rollen ausbrechen zu können, ist ein Anliegen von Peter Wallgramms Inszenierung: Für die acht Schauspieler gibt es keine festgelegten Charaktere, sie schlüpfen in Sekundenschnelle von einer Rolle in die nächste. Zum besseren Verständnis wird dies angezeigt durch blaue Schärpen, auf denen die Namen derer stehen, die der jeweilige Spieler gerade verkörpert. Dem Fluch der bösen Tat zu entrinnen, auszubrechen auch aus dem Teufelskreis, in dem sie sich befinden, sollen die jugendlichen Straftäter lernen: Etwas, was dem Ehepaar Macbeth nicht gelang. Diejenigen, die den mehr als sechswöchigen Probenprozess durchgehalten haben – und das waren beileibe nicht alle, die das Projekt zu Beginn in Angriff nahmen - erleben, dass sie etwas können, was ihnen den Beifall anderer Menschen einbringt. Und sie haben gelernt, sich zu konzentrieren auf einen schwierigen Text, sich einzulassen auf eine fremde Welt, die doch überraschende Parallelen zu ihrer eigenen aufweist: eine Welt voller Verrat und Gehorsam, voller Macho-Gehabe und nicht immer ethisch motivierter Führer-Allüren.
Naturgemäß bewältigt jeder der acht Laienschauspieler diese Herausforderung auf seine Weise. Da gibt es den jungen Mann, der immer mal wieder mit seinen Bekannten im Publikum flirtet – und prompt seinen Text vergisst. Da gibt es den groß gewachsenen selbstbewussten jungen Mann, der sich traut, wie ein Profi beschwörend Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen und der dadurch Charisma entwickelt, und den Bärtigen, der die Zuschauer spielerisch einbezieht. Da gibt es die scheueren Typen, die den Blick eher zu Boden richten. Doch wenn jemand „hängt“, helfen sich die jungen Schauspieler gegenseitig; gespielt wird immer mit Enthusiasmus, manches Mal auch mit Ansätzen von Humor – insbesondere dann, wenn die Schauspieler, die sämtlich über Migrationshintergrund verfügen, die schwierige Shakespearesche Sprache mit eigenem Slang durchmischen oder Banquo mit einem herzlichen „Salam“ begrüßt wird. Man habe den Shakespeare-Text gelesen, berichten die Schauspieler beim Kaffee, man habe Filme über den Stoff gesehen, viel diskutiert und auch eigene Erfahrungen und eigene Textpassagen einbringen können.
Und man hat erkennbar ein paar Kunstgriffe von den Profis abgeschaut: Einer der Schauspieler überzeugt mit perfektem Gitarrenspiel; die Siegesfeier auf dem Anwesen der Macbeths wird mittels einer wunderbaren Choreographie angedeutet; das Anfangsmotiv („Falsch ist richtig…“) wird erneut aufgenommen, als Macbeth das geeignete „richtige“ Messer zur Ermordung König Duncans sucht; auch chorische Szenen tauchen noch einmal auf: Die Schauspieler im Hintergrund sprechen leise mit, was Macbeth von seinen Träumen berichtet, und die wiederholten, immer stärker anschwellenden Rufe nach dem Mord: „Wacht auf, wacht auf, läutet Alarm“ haben Suggestivkraft. Auf solche chorischen Szenen hätte Regisseur Peter Wallgram noch häufiger setzen sollen, denn sie entfalten stärkere Wirkung als die Einzelauftritte.
Mit amüsiertem Lächeln quittieren die über die gesamte Spieldauer auf der Bühne verbleibenden Schauspieler, wenn einer der ihren gerade etwas tut, was in ihrer alten Welt ungewöhnlich war. Schlaflos in Ronsdorf? Macbeth shall sleep no more, Macbeth hath murdered sleep? Macbeth lacht sich kaputt, als seine Kombattanten auf der Bühne mit rauen, aber harmonischen Männerstimmen ein Guten Abend, gut’ Nacht für ihn anstimmen. Eine gute Nacht haben die Schauspieler nach der Aufführung sicher gehabt: Beifallumtost standen sie auf der Bühne, wurden zurückgeholt aus ihrer „Garderobe“, weil das Publikum sie noch einmal sehen wollte. Es applaudierte einem Projekt, das seinen sozialen Zweck ohne Zweifel erfüllt hat und das zur Wiederholung empfohlen sei. Wie sagte Pfarrer Schnitzius, der zunächst natürlich Widerstände zu überwinden gehabt hatte: „Heute Abend werden alle sehen, dass keiner fehlt und dass in der Anstalt noch genauso viele Betten belegt sind wie vorher. Und dann sind alle beruhigt und glücklich über den Erfolg.“