Übrigens …

Ein Blick von der Brücke im Köln, Theater Tiefrot

Problemthema, weiterhin aktuell

Warum Arthur Millers Blick von der Brücke (1955) diesen seinen Titel trägt, lässt sich im Theater Tiefrot nicht ganz nachvollziehen. Die Formulierung spielt auf die New Yorker Brooklyn-Bridge an. Auf ihr sinnt der Rechtsanwalt Alfieri über die Geschehnisse nach, welche die Handlung des Dramas ausmachen. Diese Figur könnte man mit dem Erzähler in Thornton Wilders Unsere kleine Stadt vergleichen. Auch der ruft Vergangenes in Erinnerung, reflektiert es, taucht mitunter auch in das theatrale Spiel ein. Bereits in Millers Welterfolg Tod eines Handlungsreisenden gibt es mit Willy Lomans Bruder Ben eine Person, die über das Hier und Jetzt hinausweist. Mit der Figur Alfieris beruft sich Arthur Miller allerdings zusätzlich auf die griechische Tragödie, deren Autoren er als junger Mann ebenso heißhungrig las wie die deutschen Expressionisten, Dostojewski und Ibsen. Alfieri steht für den Chor, reduziert freilich auf eine Person. Diese Dramaturgie wirkt - man muss es sagen - inzwischen leicht angestaubt, wie andererseits auch dem Text mit seinen vielen Füllseln („Verstehst du?“) und ständigen Anreden mit Vornamen eine Entschlackungskur nicht schaden würde. Vielleicht sollte Jörg Kernbach seinen Part auch etwas nüchterner, distanzierter sprechen, nicht so pastos.

Miller verstand sich stets als politischer Autor, auch dort, wo er über die Privatsphäre nicht hinauszugehen scheint (Handlungsreisender) oder wie in Hexenjagd Vorgänge mit dem Schleier des Historischen kaschiert. Und die Entlarvung von Lebenslügen („American Dream“) darf ja letztlich auch als politischer Vorgang gesehen werden. Es ist zweifelsohne ein Zufall, dass am Kölner „Bauturm“-Theater in Björn Bickers Deportation Cast (theater:pur berichtete) ein Problem aufgegriffen wird, welches ein gutes halbes Jahrhundert zuvor bereits Miller in Blick von der Brücke zum Thema gemacht hat: Invasion illegaler Einwanderer in Länder mit „unbegrenzten Möglichkeiten“, die mit dem verdienten Geld ihr armseliges Leben  und das ihrer Familien in der Ferne zu verbessern hoffen. Bicker lenkt seinen Blick auf den Kosovo, zu Millers Zeiten war Sizilien aktuell.

Insgesamt akzentuiert Bicker etwas krasser als Miller. Bei diesem läuft die dramatische Entwicklung mehr und mehr auf die private Tragödie des Hafenarbeiters Eddie Carbone hinaus. Er entfremdet sich emotional von seiner Frau Beatrice, ohne sich die tieferen Gründe hierfür einzugestehen. Doch liegen sie eigentlich klar auf der Hand. Catherine, seine Nichte, die er elternlos aufgenommen hat, ist von einer verspielten Göre zur jungen Frau herangereift und fasziniert Eddie mit ihrer madonnenhaften Grazie. Beatrice durchschaut die Gefährlichkeit der Situation und versucht, das naive Mädchen zu mehr Selbstständigkeit und Distanz zu bewegen. Das geschieht dann freilich automatisch, als sich Catherine in Rodolfo verliebt. Dieser, ein Vetter Beatrices, ist mit seinem Bruder Marco nach Amerika gereist, um bei den Verwandten geschützt unterzukommen und Arbeit zu finden. Eddie entgeht die Zuneigung von Catherine und Rodolfo nicht; er reagiert eifersüchtig und steigert sich dabei  ins grotesk Wahnhafte hinein. Zuletzt zeigt er die beiden jungen Männer bei der Einwanderbehörde an. Rodolfo wird aufgrund seiner Heirat mit Catherine zwar bleiben dürfen, doch der existenziell bedrohte Marco erschießt Eddie, Verzweiflungstat ebenso wie archaisches Rachewerk.

Auch wenn Millers Stück klaustrophobische Konturen besitzt, ist es für Regisseur Volker Lippmann nicht eben leicht, die räumlichen Beengungen der kleinen, mit einem Tisch und vier Stühlen ausgestatteten  Mittenspielfläche inszenatorisch zu überwinden. Er setzt stimmig auf Kammerspiel. Um unnötige Auftritte und Abgänge durch die einzig vorhandene Tür zu minimieren, setzen sich Darsteller, welche gerade nicht agieren, auf seitliche Bänke - man darf das auch als bewussten Verfremdungseffekt verstehen. Mit zunehmender Siedehitze der Bühnenvorgänge steigert sich aber auch die interpretatorische Intensität. Das schlägt sich besonders bei der Figur von Eddie nieder, den der körpermarkante Matthias van den Berg immer stärker hysterisiert. Dieser Panikfigur steht in Celina Engelbrecht eine emotional ausgleichende, immer wieder besänftigende, in sich sehr starke Beatrice gegenüber. Ihre latente Unterwürfigkeit (auch die manch anderer Miller‘scher Frauenfiguren) wäre freilich gesondert zu überdenken. Typengerecht besetzt ist Katrin Wolter als Catherine, naiv, doch erotisch nicht ohne Raffinesse. Mario Böttrich ist der etwas brütende Marco, Eric Carter der immer lächelnde, blonde Sonnenschein Rodolfo. Schön, auf Arthur Miller mal wieder aufmerksam gemacht worden zu sein.