Übrigens …

von den beinen zu kurz im Mülheim, Theater an der Ruhr

Tiger im Tank – das hammerstarke Debüt einer Dramatikerin

 

Katja Brunner ist in dieser Woche 22 Jahre alt geworden. Sie ist damit die jüngste Autorin, die jemals in der 38jährigen Geschichte des „Stücke“-Festivals für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert war. Ihren Erstling von den beinen zu kurz hat sie bereits im Alter von 18 Jahren geschrieben. Wie zum Teufel kommt man als 18jährige aus eher behüteten Verhältnissen darauf, ein Stück über Kindesmissbrauch zu schreiben, das sich derart weit vom herrschenden Moralkodex entfernt, in dem so viel Verständnis für den missbrauchenden Vater und für die wegsehende Mutter aufgebracht wird?

Die Antwort, die die junge Autorin in der Publikumsdiskussion auf diese Frage gibt, macht zunächst perplex: Wie oft haben wir schon ähnlich gedacht und empfunden; wie oft haben wir uns über das Stammtischhafte, die Eindimensionalität der Betrachtung von moralischen oder konfliktträchtigen Themen in Presse und Öffentlichkeit geärgert. Im Zusammenhang mit Pädophilie aber, das müssen die meisten von uns wohl zugeben, haben wir uns oft dem Stammtischempfinden angeschlossen. Es sei diese Scheinheiligkeit, die sie angespornt habe zu ihrem Stück, sagt Brunner; sie sei empört, wie vorschnell Position bezogen werde, wie schnell man sich einrichte in einem klassischen Täter-Opfer-Schema. Missbrauch werde betrachtet wie in einem Zoo, in dem es einen „schwarzen Tiger“ gebe und ein „kleines weißes Vögelchen“ – die Zoobesucher schlagen sich auf die Seite des Vögelchens, kümmern sich nicht um Nöte, Bedürfnisse und Anlagen des Tigers und ziehen sich zurück, als ginge sie die Thematik persönlich nichts an.

 Und so packt Brunner in ihrem Stück nicht nur das Vögelchen, sondern auch den Tiger in den Tank und bringt „Empathie für alle Beteiligten auf“, wie sie im Gespräch mit Theater heute sagte. Und schreibt so ungeheure Sätze aus der Sicht des Kindes wie „es ist von mir GEWOLLT … Eine Liebe manifestiert sich in den meisten Fällen körperlich und was kann ich … dafür, dass das bei mir geschehen ist … dass ich das auch schon konnte früher schon als alle anderen.“  „Rechtfertigung“ sind die vielen Zwischentexte überschrieben, in denen die körperliche Liebe zwischen Vater und Tochter verständnisvoll erklärt, manchmal gar genussvoll beschrieben wird. Dazwischen folgen alptraumhafte Szenen von brutalen, die Mutter förmlich zerreißenden Geburtsvorgängen, Phantasien vom Tod des Vaters. Textpassagen, die sich auch als traumatische Verletzungen des Kindes deuten lassen. Harmlose Spiele weitem sich aus zu subtiler Gewalt; Schuldgefühle des missbrauchten Kindes werden thematisiert ebenso wie das in der inzestuösen Beziehung entstehende Machtbewusstsein des Kindes, eine narzisstische Eitelkeit: Das missbrauchte Kind genießt die Position der der Mutter vorgezogenen Partnerin des Vaters.

 

Dass Katja Brunner mit ihrem Erstling ein Drama geschrieben habe, das die Pädophilie „toll findet“, wie manche Kritiker erstaunt bemerken, ist ein Missverständnis. Brunner entwirft eine Collage aus verschiedenen Perspektiven – in der Interpretation der Hannoveraner Dramaturgin Judith Gerstenberg „widmet sich (das Stück) dem Plappern in der Gesellschaft“ über das für die meisten Menschen schwer zu verarbeitende Thema. Es tut dies inhaltlich, formal und sprachlich in vielseitiger Art und Weise: Märchenmotive wechseln sich ab mit brutalem Realismus, Kindersprache mit wissenschaftlichen Erklärungen und Begriffen, Ironie mit merkwürdig poetischen Überhöhungen. Es ist ein sehr reifes, intelligentes Stück mit kunstvollen Sprachdrechseleien, die das entsetzliche Geschehen einerseits rückhaltlos aus verschiedensten Blickwinkeln untersuchen, andererseits aber auch auf Distanz halten, für den Zuschauer aushaltbar machen.

Auch die Regie von Heike Marianne Götze setzt auf diese Distanz. Weiße, maskenhaft geschminkte Gesichter, choreographierte Tänze und Bewegungen, gespensternde, puppenartige Figuren und Kostüme wie aus einem Geister- oder Horrrorfilm stellen ab auf das Alptraumhafte des Stoffes, reflektieren aber andererseits auch die Phantasien und Phantastereien der handelnden Personen: Häufig weiß man nicht genau, was eigentlich Realität ist und was eher Schlaf Traum Schrei. Das Bühnenbild ist von surrealer Zeichenhaftigkeit: Matratzen allenthalben, ein überdimensionierter Sessel, auf dem das Kind so klein wirkt wie Alice im Wunderland, aber auch schutzlos; Waschbecken, an denen sich die Akteure immer wieder rein zu waschen suchen von ihrer Schuld. Götze verteilt den im Original nicht einzelnen Personen zugeordneten Text auf vier Schauspieler, von denen grundsätzlich jeder alle Figuren spielt. Vorrangige Zuordnungen (Lisa Natalie Arnold als Kind, Katja Gaudard als Mutter z. B.) erleichtern dem Zuschauer das Verständnis, die durch die dennoch immer wieder stattfindenden Rollenwechsel sowie die unrealistischen Outfits der Schauspieler aufgebaute Distanz macht das Gehörte erträglicher. Anders als bei dem ebenfalls zum Mülheimer Dramatikerpreis nominierten Stück von Franz Xaver Kroetz („Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“) ertragen wir den nur ausnahmsweise zu expliziten Beschreibungen sexueller Handlungen neigenden Text ohne das innere Bedürfnis, wegzuhören.

So geht es uns also manchmal wie der Mutter, als sie in einer der erschütterndsten Szenen ihren Gatten mit den Fingern zwischen den Beinen der nackten Tochter im Ehebett entdeckt. „Warum schreit sie jetzt nicht“, heißt es dann. „Aber sie schreit doch …, herzzerreißend … ein Schrei der Mutterliebe tief aus dem Inneren … Nein, sie kann ihn nicht auslösen, er bleibt in ihr drin stecken.“ Mutter geht dann dahin, sie verdrängt, was sie gesehen hat. Auch in uns schreit alles, doch die Verfremdungsmechanismen ermöglichen es uns, den Schrei nicht nach außen dringen zu lassen. Verdrängen aber werden wir nichts, und vergessen auch nicht: das aufwühlende, sprachmächtige Stück mit seinen provokanten Perspektivwechseln nicht, die beklemmende Atmosphäre der Inszenierung nicht - und Katja Brunner nicht. Wenn die so weitermacht, wächst da ein Jahrhundert-Talent heran – wir werden sie hoffentlich noch häufig in Mülheim wiedersehen.