„Mein Talent heißt Überleben“
Muttersprache Mameloschn ist eine Tautologie: Mameloschn ist das jiddische Wort für Muttersprache. In Marianna Salzmanns Stück dreht sich alles um die Muttersprache – was sie aus einem macht, was Identität bedeutet, womit man sich identifiziert. Ein Abend, der uns drei Generationen einer deutsch-jüdischen Familie vorstellt. Großmutter, Mutter und Tochter unterhalten sich gut 90 Minuten schlagfertig, berührend und interessant.
Da ist die Großmutter Lin, die das KZ überlebte und in der DDR eine engagierte Kommunistin war, überzeugt davon, dass hier ein antifaschistischer Staat ihre Heimat wurde (sie zitiert Marx, der sagte, der Sozialismus bekämpfe den Antisemitismus). Eine Hoffnung, die bitter enttäuscht wurde, als es auch in der DDR in den fünfziger Jahren zur Verfolgung sogenannter jüdischer zionistischer Agenten in der SED kam.
Ihre Tochter Clara wirft ihr immer wieder vor, sie habe sie als Kind zu oft allein gelassen, um im Rampenlicht zu stehen („Du brauchst ja jemand, der dich beklatscht“). Clara hingegen, die – im Gegensatz zu Lin - wenig Bezug zum Judentum hat, klammert sich sehr an ihre Kinder, die diese fast obsessive Mutterliebe kaum aushalten. Sohn Davie wurde orthodoxer Jude und wanderte nach Israel aus. Auch seine Zwillingsschwester Rahel will so weit weg wie möglich. Sie plant, sich in New York zu verwirklichen, dort auszuleben, da sie – zum Entsetzen der Mutter – Frauen liebt. Rahel sucht einen Weg zu ihrer Identität über ihre Muttersprache, das Jiddische, und findet hier Verständnis bei ihrer Großmutter. So fügen sich ihre lakonisch erzählten jüdischen Witze bestens ins Bild einer Familie, die trotz aller großen und kleinen Boshaftigkeiten liebevoll mit einander umgeht.
Marianna Salzmann, Jahrgang 1985, wurde in Russland in eine jüdische Familie geboren und kam erst mit zehn Jahren nach Deutschland. Dort lernte sie die Sprache, in der sie heute schreibt. Ihr geht es bei Muttersprache Mameloschn um die Sprache der Mütter, um „die Wut und die Denkfehler, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, um das Scheitern, aus dem man viel über sich lernen kann. Witze spielen eine wichtige Rolle in ihrem Stück, gehört doch Humor zum Leben, denn, so Salzmann: Eine Lebensweisheit, die sich selbst zu ernst nimmt, ist keine“.
Brit Bartkowiak hat den Abend mit viel Einfühlungsvermögen in Szene gesetzt, wobei sie sich auf drei grandiose Schauspielerinnen verlassen kann. Gabriele Heinz ist Lin, die energische Großmutter. Überzeugend vermittelt sie, dass diese Frau alles gab für das, woran sie glaubte. Nachvollziehbar auch ihre Liebe zu Clara, mit der sie immer wieder aneinander gerät – ohne die sie jedoch auch nicht sein kann. Anita Vulesica als Clara behauptet sich sehr wohl gegenüber der dominanten Mutter, trotz ihrer immer wieder geäußerten Kritik. Glaubhaft, wenn sie von ihrer Flucht als junges Mädchen nach Paris berichtet, um ein eigenes Leben zu führen. Glaubhaft auch ihr Problem, sich mit der Auswanderung Rahels abzufinden. Natalia Belitzki ist diese Tochter. Sie spielt sie als sich nüchtern-trockene gebende Frau, die sich durchaus mit ihrer Sicht der Dinge durchzusetzen weiß. Und die manchmal der Mut vor der eigenen Courage (auszuwandern) fast verlässt.
Collagen- oder patchworkartig erfahren wir Teile der Vergangenheit der Protagonistinnen, ihre verschieden starke Prägung durch das Jüdisch Sein, ihre Ängste und Hoffnungen. Salzmann beherrscht ebenso perfekt das Spiel mit den Vorurteilen und Stereotypen wie auch die ausgefeilten Redeschlachten um Liebe, Familienbande, Religion, Hass und Enttäuschung, die die Regie gekonnt umsetzt.
Das Bühnenbild ergänzt die vielfach verflochtenen und sich überlagernden Erinnerungssequenzen und die oft komödiantischen Familiengefechte. Ort der Handlung: ein Wohnzimmer mit allerlei Gerümpel – einem Sammelsurium mit u. a. alten Stühlen und Tischen, drei unterschiedlichen Stehlampen, einem alten Schrank. Strandgut eines Lebens, nichts Geplantes, nichts Gradliniges. Dieses Sperrgut lässt sich erklimmen oder wild durch die Gegend schieben, je nach Gefühlslage.
Kritische, ironische Töne („Judaism - why does shit always happen to us?“), aber auch sentimentale, bewegende Momente (so will Clara am Grab der Mutter deren sozialistische Arbeiterlieder singen, die ihr doch so verhasst sind) wechseln sich ab. Ein amüsanter, leidenschaftlicher und berührender Abend, der einen in seinen Bann zieht.