Vom Mobile Phone liebkost
„Früher schritten die Leute zum Brunnen und zurück, und der Tag war vorbei“, sagt Holger einmal. Manchmal beschleicht einen die Sehnsucht nach solchen Zeiten. Da brieten die Männer das erjagte Wild am romantischen Feuer, und die Frauen servierten das vom fernen Brunnen geholte Wasser. Und dann ging’s ab in die Koje bis zum Sonnenaufgang. Heute machen Männer und Frauen sich selbst und ihre Ehe im Sturm der arbeitsteiligen Wirtschaft kaputt. Und sowas nennt man Fortschritt.
Vor fünf Jahren erhielt Felicia Zeller bei den Mülheimer Stücke -Tagen den Publikumspreis für ihre Sozialarbeiterinnen-Farce Kaspar Häuser Meer. Ein wenig überraschend schien das damals. Aber wir Schreiberlinge haben eben keine Ahnung: Damals gestand Zeller, dass sie manchmal Kellnern gehen müsse, um ihr Überleben zu sichern. Heute erzählt sie, dass sie eigentlich nicht mehr arbeiten müsse: An mehr als 40 Theatern sei Kaspar Häuser Meer nachgespielt worden. Die Tantiemen fließen reichlich, der Publikumserfolg war nachhaltig.
Nun folgt der Sozialarbeiterinnen-Komödie ein ganz ähnlich konstruiertes Kreativwirtschafts-Drama. Wieder mit drei vom Leben und von der Arbeit überforderten Personen – und einer vierten im Sinn: Der restlos relaxte Robert, Annes Mitarbeiter oder Kollege, verlässt jeden Abend pünktlich um sieben Uhr das Büro – nach einem lächerlichen 10-Stunden-Tag. Skandalös! Doch der Reihe nach:
Beim Einlass sieht alles nach Harmonie aus. Wir suchen nach unseren Plätzen, und vorne links steht Viktor Tremmel alias Holger Holz, Ehemann der bereits erwähnten Anne, am Herd, schnibbelt Paprika und lächelt uns freundlich an. Eine Art Fernseh-Kochshow läuft da ab, wobei der Koch weniger eitel und weniger sendungsbewusst scheint als die üblichen Verdächtigen im deutschen TV-Programm. Das Sendungsbewusstsein hat dafür seine Frau.
Holger ist arbeitslos – er hat sein Catering-Unternehmen in den Sand gesetzt und ist nun Hausmann. Anne dagegen hat gerade ein eigenes Unternehmen gegründet, eine Agentur für Nachhaltigkeit mit dem schönen Namen „Private Aid“. Dritter im Bunde ist Peter Pilz, Freund von Holger und Anne und seines Zeichens Bildhauer, der an der Skulpturengruppe „X Freunde“ bastelt, aber vergeblich auf den nächsten Kreativitätsschub wartet. Drei junge Menschen aus der Kreativwirtschaft, drei Ich-AGs, drei Menschen unter Dauerdruck. Nur der arbeitslose Holger wirkt vergleichsweise entspannt. Was sich zügig ändern wird in der Ehe mit der hyperehrgeizigen, ständig hyperventilierenden Anne. Die üblichen Gender-Klischees hat Felicia Zeller in dieser Ehe umgekehrt: Holger wünscht sich ein Kind, Holger sehnt sich nach Familie, nach Sommer, Sonne, Strand – Anne dagegen singt höchstens ihrem Laptop ein Liebeslied, und zwischen ihren Brüsten wird sie vom stets bereiten Mobile Phone liebkost.
Was wir in den knapp zwei Stunden mit diesen Figuren erleben, ist uns nicht neu. Im Gegenteil: den ehemaligen Manager aus der Finanzwelt, der diese Zeilen schreibt, erinnert es fatal an die eigene Vergangenheit: Die Dominanz der Arbeitswelt über das Privatleben, der Konflikt zwischen Familie und Beruf, die permanente Zeitnot, die dadurch ausgelösten Denk- und Kreativitätsblockaden, welche durch stetiges Kreisen und viele Worthülsen in der Kommunikation kompensiert werden. Zeller demonstriert diese Problematik in dem Segment der Gesellschaft, dem sie selbst entstammt: bei den Künstlern und Kreativen, der „Bourgeoisie der Bohemiens“, wie Regisseurin Bettina Bruinier es so wunderbar ausdrückt. Bei Selbständigen ist die Selbstausbeutung vermutlich noch einen Tacken ausgeprägter als im abhängigen Arbeitsverhältnis.
Überdruck prägt das Verhalten von Zellers Figuren. Bettina Bruiniers Inszenierung steigt in den Wahnsinn der Hyperaktivität mit einem Wahnsinns-Tempo ein. Was die Inszenierung den Schauspielern allein an sprachlicher Leistung abverlangt, ist atemberaubend. Tatsächlich sind es „Sprachskulpturen“, die Felicia Zeller für ihre Texte baut; Inhalte und psychische Zustände der Protagonisten vermitteln sich mindestens in gleichem Maße darüber, wie es gesagt wird, wie über das, was gesagt wird. Abgehackte, nicht zu Ende geführte Sätze erinnern bisweilen an die Stücke von Ewald Palmetshofer, doch ist es bei Zeller nicht die Flachheit der Figuren, sondern es sind die Zeitnot und die sich überschlagenden Gedanken, die zu der eigenwilligen Diktion führen. Anne glaubt, sich zweiteilen zu müssen: In doppelter Ausfertigung erscheint sie auf der Videowand, zusätzlich live auf der Bühne – und sie redet und redet und redet. Ein hochfliegendes, idealistisches Weltverbesserungs-Deutsch mischt sich mit flachem, floskelhaftem Werbeagentur-Sprech – Claude de Demo überdreht immer mehr und hantiert noch während der Rückengymnastik mit ihrem Laptop.
Den virtuosesten Umgang mit der Zeller’schen Sprache pflegt Christoph Pütthoff als Künstler Peter Pilz. Er zelebriert geradezu das schnelle Geschnatter und die hyperaktive Hektik in nichtssagenden Zusammenhängen und macht sie zu einer Kunstform von hohen Graden. Und doch werden seine Ängste deutlich, den Anforderungen des Kunstbetriebs nicht zu genügen; seine Flucht in die Worthülsen hat gleichzeitig etwas Souveränes und etwas Hilfloses. (Bei allem Tempo ist er zudem wach genug, um ein im Publikum klingelndes Handy in seinen Text zu integrieren und dessen Besitzerin mit feiner Ironie zum roten Kopf zu verhelfen.)
Man fragt sich, wie angesichts des bereits in der ersten Szene gezündeten Turbos eine Steigerung der Farce gelingen soll, wie die Inszenierung über knapp 120 Minuten unsere Aufmerksam fesseln soll. Oh Wunder, die Eskalation gelingt: Weil Anne aus Zeitnot nicht zum Zahnarzt geht. Und weil Holger sich nach einigen Jahren des Ehe- und Arbeitslosen-Frusts dick und rund gefressen hat und aussieht wie ein überdimensioniertes Michelin-Männchen. Holger zieht Anne den Zahn – und ist dabei ähnlich erfolgreich wie weiland mit dem Catering-Unternehmen. Es spritzt das Blut gleich literweise und Anne fällt in Ohnmacht. Im Urlaub springt Holger im grotesken Fatsuit lustvoll in den Styropor-Pool. Die bislang noch am Rande des Realismus‘ entlang balancierende Inszenierung kippt in die Groteske, vielleicht gar in die Klamotte. Kritische Stimmen bemängeln, es werde gar der Status der Arbeitslosigkeit denunziert. Nun, erstens ist es wohl eher Kummerspeck als ein Hartz-IV-Bierbauch, den Holger sich angefressen hat in der Ehe mit seiner dauerabwesenden, dem Familienleben abholden Holden, und zweitens es ist nur die logische Entwicklung der sich zuspitzenden Situation, dass die Farce nun ins Aberwitzige überdreht, in die zwerchfellerschütternde Comedy. Der tragische Subtext scheint weiterhin durch.
Die Alternative wäre ja der Sturz aus der Farce in die Tragödie. Das aber war bislang Zellers Sache nie. Doch erneut erleben wir ein Wunder: Der Schluss ist tragisch und von bitterem Zynismus. Applaus dafür, dass Zeller dies versucht hat. Leider jedoch glaubt man die Not der Autorin zu spüren, das Stück zügig zu einem Ende bringen zu müssen; der Abgesang auf jede Figur kommt etwas holterdipolter daher. Weitgereiste Beobachter berichten, dass die Nachinszenierung von Stephan Thiel am Theater unterm Dach Berlin diese Schlussszene überzeugender gelöst habe: berührender, weniger abrupt. Aber insgesamt zeigt Bettina Bruinier eine rasante, ungeheuer unterhaltsame und kreative Inszenierung mit herausragenden Schauspielern. Die Qualität des Texts ist zumindest nicht schlechter als bei Kaspar Häuser Meer. Die Inszenierung ist großartig.