Dunkel lockende Welt im Moers, Schlosstheater

Ein Kessel Zehen oder Der Mensch verschwind’t im Holozän

„Ce sont toujours les autres qui meurent.“ Der Satz, den sich der Surrealist und Dadaist Marcel Duchamp auf seinen Grabstein meißeln ließ, prangte bei der zum Berliner Theatertreffen 2006 eingeladenen Uraufführungs-Inszenierung von Dunkel lockende Weltquer über der gesamten Breite der Bühne. So dadaistisch ist der Spruch ja gar nicht, denn allzu viele Menschen haben sich vermutlich noch nicht selbst beim Sterben zugeguckt. Zu Händl Klaus passt ein Dadaisten- oder Surrealisten-Zitat optimal, denn seine Stücke prunken mit dadaistischen Wendungen, schräger Poesie und absurder Dialogführung. In der „Dunkel lockenden Welt“ lauert auch ein Krimi. Es kann aber passieren, dass man nach 90 Minuten heimgeht und hat das gar nicht gemerkt.

Wenn Mieterin Corinna sich beim Vermieter Hufschmied rechtfertigen zu müssen glaubt, weil sie ihre Wohnung beim Auszug so klinisch rein übergibt, scheint sie etwas zu verbergen zu haben. Schnell ist man beim Thema. „Ein so lebendiger Mensch wie meine Mutter stirbt ja schwer“, räsoniert der Vermieter. Das ist Händl‘scher Wortwitz, aber auch Händl’sche Kunst des Irreführens: Mutter Hufschmied hat mit dem Krimi nicht das Geringste zu tun. Die nächsten Toten sind die aus Madagaskar: Dort „trinken die Trauernden ja vom Saft, der aus den Toten tropft“, weiß diesmal Corinna, die Kieferchirurgin, die angeblich ihrem Lebensgefährten nach Peru folgen will, und erzählt von Eidechsen im läppischen … äh … lappländischen Schnee, die acht Monate im Jahr in die Winterstarre fallen. – So umkreisen sich Joachim Hufschmied und Corinna Schneider, und das Publikum versteht nur Bahnhof. Corinna würde wohl gern in Winterstarre fallen, bevor sich dies ändert. Denn das einzige, was von ihrem Freund, dem Duchamp-Namensvetter Marcel Tobler, übrig blieb, ist sein mutmaßlicher Zeh – und der versteckt sich dummerweise in der so sorgfältig geputzten Wohnung. Wenn er gefunden wird, hat Hufschmied Corinna in der Hand.

Deren lauerndes Umkreisen wird in der kainkollektiv-Aufführung wunderbar szenisch ungesetzt: Wie Gespenster schleichen Katja Stockhausen in überdimensionierten Putzhandschuhen und Vermieter Matthias Heße umeinander, während Händls scheinbar zielloser Text abschnurrt. Wir sind in gehobenen Bürgerkreisen; da geht auch die Erpressung von Corinna durch Herrn Hufschmied äußerst diskret und niveauvoll vonstatten. (Die Folgen der sexuellen Verwicklungen, die vor allem Corinnas Mutter Mechthild später auf der Suche nach dem verlorenen Zeh aufdeckt, waren wohl ebenso diskret verschwiegen worden.) Hatten jedoch die Münchner Kammerspiele bei der Uraufführung vor sieben Jahren ein ebenso gehobenes bürgerliches Kammerspiel aufgeführt, bei dem man das Surreale von Text und Handlung lange Zeit zu verpassen drohte, fällt der Surrealismus in Moers im wahrsten Sinne des Wortes mit der Tür ins Haus. Mit sechzehn oder siebzehn Türen genau genommen. Die meisten von ihnen werden von Matthias Heße und Marieke Kregel, die später die Mutter von Corinna spielen wird, hin und hergeschleppt und bilden eine zunehmend wacklige und unsichere Spielfläche: eine schöne Metapher für das Rätselhafte des Geschehens und das Unsichere der Existenz der Figuren. Andere Türen stehen einfach in der Gegend herum in der kleinen Spielstätte im Moerser Neuen Alten Rathaus (auch so ein zu Händl Klaus passender Begriff, unter dem das Gebäude in der Stadt Moers aber ganz real firmiert); sie sind Eingangstüren zur Wohnung, zum Zimmer oder zur Welt außerhalb der Welt von Hufschmid und Frau Schneider: zur Welt hinter der Videowand, zu Afrika oder Peru, der dunkel lockenden Außenwelt. Matthias Heße als Hufschmied tritt nach langem stummem Auftakt mit einer unsäglich vertrockneten Yucca-Palme im Blumentopf heraus aus dieser Videowand und sieht aus wie ein Gärtner im Schlafrock. Mindestens zehn verschiedene Kleidungs-Schichten zieht er sich später an oder aus, was den läppischen … äh … lappländischen Eidechsen die ganze Winterstarre durcheinanderbringen würde; über die Pflanzen und insbesondere die Funktionsweise der Photosynthese werden wir zu anschwellendem Trommelwirbel endlose wissenschaftliche Erklärungen hören, für die Katja Stockhausen und Marieke Kregel nicht etwa gelangweiltes Gähnen, sondern berechtigten Szenenapplaus erhalten. Die musikalische Struktur des Textes wird von den Schauspielern zu einer perfekten Partitur verarbeitet; leise Wiederholungen von Satzfetzen, eine großartige Bandbreite in der Sprachmodulation, immer verstiegenere Pirouetten in den eingeflochtenen wissenschaftlichen Texten oder bei der Ausbreitung des kuriosen Detailwissens von Corinna Schneider nehmen uns im Verein mit der Live Musik von Carsten Langer und Miriam Schmuck mit auf eine surreale Reise.

Die wird zu einer Alptraumreise. Die vielen Anklänge an das Sterben erreichen einen (etwas übertriebenen) Höhepunkt, als das Modell eines Lagers, wohl eines KZs, in Großaufnahme eingeblendet wird und Vermieter Hufschmied „Jedem das Seine“ gönnt. Marieke Kregel zuckt zusammen und zittert; es rattert die Musik, und Mutter Mechthild hebt an zu einem langen Monolog: „Wir heben Wintergräber aus, im frühen Herbst noch… Wenn die Herbstzeitlosen blühen…“. Das steht so im Text, doch nicht alle Assoziationen von Fabian Lettow, dem großen Denker des kainkollektivs, wird der Zuschauer verstehen. Aber die Aufführung entfaltet ungeheure Kraft. Eine dunkel lockende Kraft, unheimlich, rätselhaft, surreal.

kainkollektiv hat eine große multimediale Installation aus Schauspiel, Bildender Kunst, Video und Musik erarbeitet. Und als die Alptraumreise zu Ende geht, sind wir doch nicht mehr so sicher, ob wir einem Krimi beigewohnt haben, ob es wirklich um das vermutlich unfreiwillige Ableben von Corinnas Schneiders Lebensgefährten ging, oder ob nicht das Verschwinden der ganzen Menschheit mittels irgendwelcher biochemischer Zusammenhänge zur Debatte steht. Corinna, inzwischen ebenfalls totgesagt und leichenblass auf dem Boden liegend, erhebt sich jedenfalls und schüttet einen ganzen Beutel voller Zehen aus, die nicht alle Marcel Tobler gehört haben können; Herr Hufschmied entschwindet über eine Leiter aus dem 1. Stock des Rathauses im Garten ward nicht mehr gesehen, und Mechthild wird im weißen Laken von der gleichermaßen weißen Videowand aufgesogen. Der Mensch verschwind’t im Holozän…