Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes im Neuss, Rheinisches Landestheater

Die Zubereitung von Auberginen

Was ist das eigentlich für ein merkwürdiges Stück, das der derzeit meistgespielte zeitgenössische Dramatiker deutscher Sprache da geschrieben hat? Uraufgeführt wurde es nicht, wie in zahlreichen Publikationen zu lesen ist, am Deutschen Theater Berlin, sondern im Sommer 2010 am Volcano Theatre in Toronto, als Auftragswerk zu einer kleinen Reihe zum Thema „Africa and the West“. Ist es also ein Stück über Afrika, eine Variation des Themas von Ingrid Lausunds Erfolgsdrama „Benefiz – Jeder rettet einen Afrikaner“ über gut gemeinte, aber naive und fehlgeleitete Hilfsaktionen weltfremder Gutmenschen, oder geht es doch eher um Beziehungsprobleme in der mittelständischen westlichen Wohlstandsgesellschaft, ganz in der Tradition von Wer hat Angst vor Virginia Woolf?  oder Gott des Gemetzels?

Nun, es gibt einen gemeinsamen Nenner für diese beiden scheinbar so unvereinbaren Themenkomplexe: Peggy Pickit ist ein Stück über „Cultural Clashes“. Den zwischen Afrika und dem hilflosen Westen einerseits und den zwischen zwei unterschiedlichen Lebensentwürfen westlicher Intellektueller andererseits. Dramatis personae sind zwei Mediziner-Ehepaare, sozialisiert in einem beliebigen Wirtschaftswunderland. Karen und Martin haben in den vergangenen sechs Jahren unter schwierigen Bedingungen als Ärzte in einer provisorischen Klinik in einem ungenannten afrikanischen Staat gearbeitet, der sich nun offenbar in bürgerkriegsähnlichem Zustand befindet. Frank und Liz, die Freunde und ehemaligen Kollegen aus der Klinik einer westlichen Universitätsstadt, sind daheim geblieben: Frank hat Karriere gemacht, und Liz hat ihre Tätigkeit als Krankenschwester nach der Geburt einer Tochter aufgegeben. Nun sind Karen und Martin aus dem Busch zurück, und man trifft sich im schnieken Heim von Frank und Liz zur Wiedersehensfeier. In Katka Schroths Inszenierung hagelt es erstmal Ohrfeigen.

 „Es war eine komplette Katastrophe. Ein absolutes Desaster.“ Damit ist Szene 1.1 in Schimmelpfennigs Stück bereits zu 80 % vollständig zitiert, und mit diesen Worten ist auch der gemeinsame Nenner zwischen den beiden Themen des Stücks perfekt charakterisiert: Zur kompletten Katastrophe wird das champagnerselige Wiedersehen der beiden Paare, und ein absolutes Desaster war auch der idealistische, hochherzige Auslandseinsatz von Karen und Martin. Der risikoärmere Lebensentwurf von Liz und Frank erweist sich als ebenso unbefriedigend.

Nach und nach erst schälen sich die Zusammenhänge und die biographischen Hintergründe der Figuren heraus: Frank und Liz sind stolz auf ihr fünfjähriges Kind; Karen hätte gern eines gehabt, musste aber wegen des Afrika-Aufenthalts auf den Kinderwunsch verzichten. Stattdessen haben Karen und Martin das kranke einheimische Mädchen Annie aufgenommen und (auch mit finanzieller Hilfe von Frank und Liz) mit in Afrika unbezahlbaren Medikamenten behandelt. Doch nun ist Annie verschwunden, einem wahrscheinlich tödlichen Schicksal überlassen von Karen und Martin, die vor dem Bürgerkrieg fliehen mussten. Die frustrierten Helfer, die erkennen mussten, dass sie in Afrika Menschen gesund gepflegt haben, damit die sich anschließend gegenseitig umbringen, haben sich in wechselseitige Affären gestürzt, die nicht nur zur Erosion des Ehelebens geführt haben, sondern auch zur eigenen AIDS-Infektion. Ein Brief, den die Tochter von Frank und Liz angeblich an Annie geschrieben hat, hat Karens Lebenslüge endgültig zum Einsturz gebracht – den verdrängten Traum von einem glücklichen Familienleben im Wohlstands-Westen. Und das Paar, das diesen Traum scheinbar gelebt hat, geht vor die Hunde vor unbefriedigter Lebensgier, greift zu untauglichen Ersatzbefriedigungen wie der intensiven Beschäftigung mit der richtigen Zubereitung von Auberginen…   

Die „schneidet man in Würfel, dann salzt man sie, lässt sie für ein paar Stunden abtropfen, wäscht sie dann, trocknet sie und brät sie an.“ Undsoweiter: Genauso ist auch Schimmelpfennigs Stück. In Scheiben geschnitten, dann ein wenig gesalzen, dann lässt man abtropfen, was man gesprochen oder gehört hat, dann wird angebraten, wieder gedünstet undsoweiter. Roland Schimmelpfennig macht es seinen Zuschauern mit seinen in ungezählte und chronologisch wild durcheinander gewürfelte Kürzest-Szenen portionierten Stücken nicht immer einfach – und seinen Regisseuren auch nicht. In diesem Stück, so charakterisierte Till Briegleb Peggy Pickit einmal, springt Schimmelpfennig „chronologisch herum wie eine Impala-Antilope und käut zahlreiche Szenen mehrfach wieder.“ Die erwähnten Ohrfeigen wiederholen sich – auch in Schimmelpfennigs Original-Text – allein sechsmal; einzelne Szenen und Aussagen hören wir an diesem Abend locker drei- oder viermal.

Man kann das lesen wie eine Partitur. Katka Schroth hat das erkannt, und sie unterstreicht den musikalischen Rhythmus der Szenen durch eine großartige musikalische Begleitung, insbesondere durch eingestreute Popsongs, die die Aussagen der vier Figuren mal kontrastieren, mal kommentieren. Je auswegloser die Situation für die handelnden Personen, desto revueartiger wirkt das Einstreuen der Lieder, was die Härte der Situation und den Widerspruch zwischen dem realen Leben und den Lebenslügen der vier Personen betont. So entwickelt der Abend einen Rhythmus der Unerbittlichkeit, der Ausweglosigkeit und Verzweiflung, der Lebensgier und der Lebensuntüchtigkeit. Nach und nach bekommt er für den, der lauscht auf die Zwischentöne, einen geradezu perfekten Spannungsbogen.

Die Schauspieler werden angehalten, in ihren Bewegungen weitgehend statisch zu agieren, aber sie geben ihrem Spiel eine hohe Intensität. Vor allem die beiden Damen überzeugen: die manchmal etwas schrille, unsichere, verhärmt und psychisch krank wirkende Liz der Linda Riebau und die in manchen Szenen mit einer geradezu hinterhältigen Gehässigkeit agierende Karen der Hergard Engert, der kraftvollsten der Schauspielerinnen, deren Zusammenbrüche dann umso wirkungsvoller sind.

Rhythmus, Intensität und Spannungsbogen schienen sich jedoch der Mehrzahl der Neusser Zuschauer nicht zu vermitteln. Handgezählte 61 Zuschauer verloren sich in der zweiten Vorstellung im Parkett; die Lokalzeitung hatte am gleichen Tag einen Komplett-Verriss geschrieben. Die Neusser – und vermutlich erst recht die kleinstädtisch oder dörflich geprägte Zuschauerschaft, die das RLT auf seinen Tourneen durch die deutsche Provinz zu unterhalten sucht - sind biederere Kost gewöhnt, eher gemächlich erzählte Geschichten, die auch in ihrer Abfolge logisch aufeinander aufbauen. So etwas hat Schimmelpfennig aber eher selten im Repertoire, und diese Erwartungshaltung war Katka Schroth auch nicht bereit zu bedienen. So könnten jetzt ein tolles Stück und eine tolle Inszenierung zum Kassen-Flop werden. Eine komplette Katastrophe. Ein absolutes Desaster.