Pubertät zur Schau gestellt
Es war ein großer Wurf, den Frank Wedekind 1891 in die Welt schleuderte. Eine „Kindertragödie“, ausgeformt aus eigenem schulischen Erleben. Ein Drama über das Pubertieren, mit Empathie für seine Schützlinge, mit beißender Kritik am wilhelminischen Obrigkeitssystem, dessen Repräsentanten (Eltern/Lehrer) bisweilen als Karikatur gezeichnet werden. Kurzum: Frühlings Erwachen, 1906 an den Berliner Kammerspielen uraufgeführt, barg die Revolution in sich. Das Thema aufkeimende Sexualität von Noch-Kindern oder Schon-Jugendlichen war ein Tabu, dessen Bruch Wedekind mutig in Angriff nahm.
Inzwischen mag der Betrachter generös-verständnisvoll darüber lächeln, doch der Stoff ist nicht aus der Welt zu diskutieren. Waren wir nicht selbst, mal ehrlich, der eine mehr, die andere weniger, befangen, hilflos oder angeberisch „wissend“ über das Geschlechtliche? Die Inszenierung Claus Peymanns für das Berliner Ensemble jedenfalls versucht den Spagat, Frühlings Erwachen in den zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen, gleichzeitig aber, die Allgemeingültigkeit des Dramas zu betonen. Durch ein Schwanken zwischen Abstraktion und Karikatur. Doch alles wirkt eher nüchtern als berührend, eher witzig als beißend grotesk.
Die Deutung, nun bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen erneut zu besichtigen, geht zu Verstand, nicht zu Herzen. Nehmen wir nur Achim Freyers Bühnenbild und Wicke Naujoks Kostüme. Alles in karges Schwarzweiß getaucht, mal gleißend hell ausgeleuchtet, dann wieder von nächtlichem Dunkel umgeben. Die Spielfläche ist beengt, die hintere Wand besteht aus drehbaren Panelen, die die Menschen gewissermaßen ins Leben schubsen. Kaum Requisiten. Wedekinds Stück wird hier zum Zelebrieren von Sprache unter Zurschaustellung der Figuren.
Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Wendla Bergmann, Melchior Gabor und sein Freund Moritz Stiefel. Sie feiert gerade ihren 14. Geburtstag, die beiden Jungs besuchen offenbar eine höhere Schule. Es gilt, Latein, Geschichte, Gleichungen und mehr zu pauken. Sie aber philosophieren lieber über die Welt, plaudern verschämt über Sexualität im allgemeinen, besonders über Mädchen. Moritz wird am Leben scheitern: Verzweifelt über seine Nichtversetzung, den gestrengen Vater im Nacken, erschießt er sich.
Melchior und Wendla wiederum sind verliebt wie die Backfische. Dann schlägt er sie, weil sie es so will, später schlafen sie miteinander. Schwangerschaft, Abtreibung und Wendlas Tod sind die Folge. Melchior, aus der Schule in eine Erziehungsanstalt verbannt, hegt Selbstmordgedanken. Das Stück endet mit einer makabren Friedhofsszene: Moritz, der als geisterhafter Untoter den Kopf unterm Arm trägt, will seinen Freund in die Finsternis locken. Doch ein Vermummter führt Melchior davon, auf dass der Junge endlich die Facetten des Lebens kennenlerne.
Sabin Tambrea gibt ihn als streng gescheitelten Intellektuellen, der so tut, als sei er längst mit allen Wassern gewaschen. Doch jeder Blick auf Wendla macht ihn unsagbar verlegen und schwach. Anna Graenzer spielt das Mädchen, wie ein junges Fohlen ausgelassen durch die Welt springend, in Sachen Sexualität aber völlig unbedarft. Wo denn die Kinder herkämen – ihre Mutter (Swetlana Schönfeld) stammelt händeringend ausweichende Antworten. Sie spürt, dass Wendla ihr bereits über den Kopf gewachsen ist. Schließlich Lukas Rüppel als Moritz: ungelenk, fragend, zweifelnd – ein Melancholiker, dessen Existenz letztlich von einem guten Zeugnis abhängt.
In Claus Peymanns Regie indes leben diese Figuren allein in ihren Bewegungsritualen. So wie die skurril gezeichnete Lehrerschaft ein Konferenzritual exerziert. Wir verstehen all dies auf Grund einer klaren Darstellung, die zugleich etwas Protokollarisches hat. Doch fiebern wir mit, sind erschrocken, weinen gar? Nein, bestenfalls bedenken wir.