Übrigens …

Hedda Gabler im Recklinghausen Ruhrfestspiele

General Gablers Pistolen im Wilden Westen

Norwegian Wood. Hedda ist ausgeflogen, Tante Juju macht den Auftakt in Stefan Puchers Inszenierung. Im Blockhaus. Bestehend aus Norwegen-Holz, vielleicht aber auch aus den Stämmen des Yosemite Parks. Auf den kommt man aber erst später. 

Der Wohnstil ändert sich, Hedda, die in der ersten Szene doch noch einschwebt, auch. Charakterlich nicht, aber kostümtechnisch: War ihr goldbraunes Kleid mit den schrecklichen Mickey-Mouse-Puffärmeln farblich perfekt auf das Blockhütten-Holz abgestimmt, so passt nun auch ihr weites, in warmem Weiß gehaltenes Seidenkleid zur schwarz-weißen Innenausstattung. Ihre Frisur erinnert an Tamara de Lempicka; wir sind in den 20ern. Frau Elvstedt kommt. Brack auch, und das ansonsten ziemlich überflüssige Dienstmädchen Berte in Person von Naemi Simon kann seine Daseinsberechtigung nachweisen: Naemi rockt nämlich ganz ausgezeichnet. „Baby’s on fire…“

Rot ist die Farbe der Sünde. Eilert Lövborg tritt auf. Brack spielt mit Hedda Konversations-Pingpong um die Aufnahme außerehelicher Beziehungen. Im schönsten Bühnenbild des heutigen Abends: Die Wände sind ganz mit poppigen rot-roten oder rot-weißen dreidimensionalen Platten, die an Lampen oder Lautsprecher erinnern, gepflastert; giftig rote Sessel stehen herum. Der Freund der Pop Art applaudiert; auch die elegante weiß-rote Bluse zur weiten weißen Hose steht Hedda sehr gut. Wir sind in den späten 60ern.

Und wandern im vierten und letzten Bühnenbild in die 90er, ins karg ausgestattete Tonstudio, wo nun nicht nur Naemi Simon, sondern auch alle übrigen Akteure ihre beneidenswerten Fähigkeiten im Instrumentenspiel und im Gesang unter Beweis stellen.  

So treibt also Stefan Pucher seine Hedda durch die Zeiten, von der Epoche ihrer Uraufführung im Jahre 1891 nahezu bis heute. Tante Juju taucht (mit Ausnahme einer kurzen Video-Einblendung) nur im Blockhausstil auf; das ergibt Sinn, denn nichts Modernes ist an ihr. Alle übrigen Figuren in Ibsens Drama haben ja auch nach mehr als 120 Jahren noch erstaunlich heutige Charakterzüge. Das Programmheft zitiert Texte zur Hedda-Rezeption aus den Jahren 1894, 1910, 1951 und 1974 von Emil Reich, Lou Andreas-Salomé, Theodor Adorno und Elizabeth Hardwick; so begründet Pucher seinen Ritt durch das Jahrhundert mit den verschiedenen Mode- und Wohnstilen, aber einer einzigen, charakterlich sich kaum verändernden Hedda. Emil Reich weist darauf hin, dass zu seiner Zeit die höhere Tochter den Menschen ein „wahres Schreckgebild“ sei, „vor dem nicht nur jene, welche das weibliche Geschlecht bloß … beim Strümpfestricken sehen möchten, sondern fast mehr noch jene, die für … vertiefte Frauen-Bildung eintreten, flüchten.“ So dürfte es Tante Juju mit ihrer angeheirateten Nichte gegangen sein. Elizabeth Hardwick dagegen erkennt bei aller negativen Charakterzeichnung der Hedda, dass diese „festsitzt“ in einer leeren, lähmenden, lächerlichen Ehe, dass sie bei aller moralischen Verwerflichkeit „einen Vorteil besitzt…, den Vorteil, Stil zu haben.“ Wie sehr sie festsitzt, hält Amtsgerichtsrat Brack ihr im Bühnenbild 3 wunderbar vor die Nase.

Stil hat die Hedda der Nina Hoss bei Stefan Pucher ohne Zweifel. Perfekt passt sie ihre Kleidung dem jeweiligen Zeitgeist, den Puchers Bühnenbildnerin Barbara Ehnes zitiert, an. Aber das ist äußerlich. Bis 1891 vermögen wir zwar nicht zurückzublicken, aber immerhin bis 1977: bis zu Rosel Zech in Peter Zadeks legendärer Inszenierung am Schauspielhaus Bochum. Bei allem Entsetzen, das das Verhalten von Hedda auslösen mag: Rosel Zech berührte uns auch innerlich. Wie gut konnte man ihren Abscheu vor der Spießigkeit des Tesman’schen Lebens nachvollziehen, wie gut ihren Wunsch nach „Weinlaub im Haar“, nach ein wenig Schönheit – und sei es im Sterben. Das war Dekadenz in Reinkultur, aber es war auch der Wunsch nach Stil – und eine unstillbare Lebensgier, die aus eigener Kraft zu befriedigen eine Hedda nicht gelernt hat. In eine solche Hedda kann man sich verlieben, auch wenn man weiß, dass man mit ihr unglücklich würde.  In ähnlicher Form galt das für Michaela Steiger am Düsseldorfer Schauspielhaus 1994 (Inszenierung Detlef Altenbeck); Christiane Rossbach gab bei Stephan Rottkamp 2007 am gleichen Haus eine psychisch kranke Frau, die langsam in den Wahnsinn gleitet, und am Schauspiel Dortmund appellierte Birgit Unterweger im selben Jahr als sexy Zauberschneckchen, das sich die Langeweile mit einem Putzeimer voller Kokain vertrieb, sowohl an die Beschützer-Instinkte als auch an die erotischen Gelüste des männlichen Publikums.

Verlieben wird man sich in Nina Hoss in Recklinghausen nicht, und Beschützer-Instinkte weckt sie schon gar nicht. Hoss, deretwegen die Aufführungsserie bei den Ruhrfestspielen binnen weniger Stunden ausverkauft war, ist eine hinreißende Schauspielerin, aber sie gibt ihrer Hedda mit, was sie in nahezu allen Rollen auszeichnet: eine kühle Intellektualität, eine überlegene Distanz. So etwas bewundert man, aber es berührt nicht. Natürlich ist sie in Anwesenheit Tante Jujus eine perfekte Schlechte-Laune-Zicke; natürlich ist sie eine kapriziöse Schlange, ein Ausbund an Zynismus und ein männermordendes Ungeheuer – aber sie hält letztlich nicht nur ihre Männer auf Distanz, sondern auch ihr Publikum. Grandiose, bis in die letzten Reihen charismatische Wirkung entwickelt sie nur in einer Szene – und die gibt es nur auf der Leinwand. Da folgt ihr die Kamera auf dem Weg durch eine Western-Stadt; die berühmten Pistolen trägt sie in der Hand – und sie erschießt sie alle: ihre Mitspieler in dieser Tragödie, die Quälgeister ihres in Luxus und Langeweile gelebten Lebens. Als sie ihre Mitmenschen vernichtet, bekommt diese Frau Ausstrahlung – da beginnen wir sie auch emotional zu verstehen.    

Das Western-Motiv zieht sich von Beginn an durch Puchers Inszenierung – die Pistolen, deren eine Lövborg zum Herbeiführen eines schönen Todes überantwortet wird und mit deren anderer sich Hedda am Ende erschießt, hat Pucher quasi überhöht. Das trutzige Holzhaus bereits könnte eher im Wilden Westen stehen als neben der ausgeklügelten Architektur einer norwegischen Stabkirche; Amtsgerichtsrat Brack wird mit der gelangweilten Androhung der Erschießung begrüßt, Lövborg wirkt zumindest optisch bei Alexander Khuon wie eine Mischung aus Krimi- und Westernheld, und immer wieder sehen wir Schwarz-Weiß-Videos, die Western-Filme zitieren. „Ich möchte einmal im Leben Macht besitzen über das Schicksal eines anderen Menschen“, gesteht Hedda der Frau Elvstedt. „Wenn Du wüsstest, wie arm ich bin – und du, du bist so reich.“ – Ja, im Gegensatz zu Frau Elvstedt benötigt Hedda Pistolen, um Macht auszuüben – die wahre Macht kommt aus dem Herzen, und das ist bei Hedda kalt.   

 “In her eyes you see nothing / No sign of Love behind her tears.”  Es ist der Soundtrack, der uns in Erinnerung bleiben wird von dieser Inszenierung, es sind die Film-Einspielungen, die Western-Assoziationen – und es ist das wunderbare Vierfach-Bühnenbild von Frau Ehnes. Das Schauspiel selbst lässt uns trotz der wunderbaren Akteure (erwähnt sei noch der schnarrende, ebenfalls faszinierend zynische und am Ende erpresserische Brack des Bernd Moss, in dem Heddas unbarmherziges Spiel mit den Menschen ihren Meister findet) so kalt wie es Hedda ums Herz ist. Es ist routiniert, es ist von hoher Professionalität. Aber keiner kommt zurück und hat Weinlaub im Haar.