Wir lieben und wissen nichts im Recklinghausen/Mülheim

Die Einsamkeit der Tauschpartnerschaft

Beim Theater Bern ist immerhin schon mal der Entsafter umzugsfertig. Mit Unmengen von Schutzfolie umwickelt, sieht er aus wie ein veritables Phallus-Symbol. Sex ist ja eine ganz wichtige Zutat für ein ordentliches Boulevard-Stück.

Oder würde Moritz Rinke sich etwa verbitten, dass sein erstes Stück nach siebenjähriger Dramenpause als Boulevard-Stück bezeichnet wird? - Eher nein: „Es gibt… kein Land auf der Welt, wo man sich als Theaterautor für ein gut gebautes Drama bei der Fachkritik entschuldigen muss. So etwas geht nur in Deutschland“, mokierte sich Rinke im „Stücke“-Festival-Blog von Theater heute, und auch in der Publikumsdiskussion zur Berner Inszenierung am Vorabend der besuchten Aufführung bekannte er sich nach Zeugenaussagen zum gut gebauten Boulevard, auch wenn der Autor selbst sein neues Stück lieber ein „bürgerliches Kammerspiel“ nennt. Mit einem „Doppelton“, wie er es bezeichnet, zwischen Komik und Tragik, zwischen bürgerlichen Illusionen und einer Desillusionierung, die die gesammelten Determinanten unseres heutigen gesellschaftlichen Zusammenlebens in Frage stellt.

Diesen Doppelton fand das Auswahlgremium für die zum Mülheimer Dramatikerpreis nominierten Stücke in der Berner Inszenierung von Mathias Schönsee offenbar besonders ausgeprägt. Die Frankfurter Inszenierung von Oliver Reese gilt vielen Kritikern als zu leicht und oberflächlich. In NRW ließ sich nun innerhalb von einer Woche die Probe aufs Exempel machen. Zweifel an der obigen Einschätzung erscheinen angebracht.

Der inhaltliche Rahmen des Stückes ist schnell erzählt. Zwei Paare treffen sich in aller Eile zum vorübergehenden Wohnungstausch: Hannah und ihr Freund Sebastian ziehen für zwei Monate nach Zürich, weil Hannah dort Zen-Kurse für Banker geben soll, und Roman und Magdalena ziehen in die Gegenrichtung, wo Computerspezialist Roman ein neues Projekt zu beginnen gedenkt. Der „Kombitransporter“ steht in zweiter Reihe vor der Tür, damit in boulevardtauglicher Zeitspanne die Neuankömmlinge ihr Hab und Gut aus- und die Abreisenden ihr Gepäck eingeräumt haben müssen. Eindreiviertelstunden – es gilt die Einheit von Zeit und Raum - genügen, damit in guter alter Yasmina-Reza-Manier jede(r) mal mit jedem/r anbändelt, alle einmal einen ordentlichen Seelen-Striptease hinlegen, lange Verschwiegenes an dir Oberfläche gespült wird und am Ende vier einsame Individuen vor den Trümmern ihrer brüchigen Beziehungen stehen. Bösartige Zungen könnten ein banales Fazit ziehen: Mann und Frau passen eben nicht zusammen.

Als Hannah dies über Roman und Magdalena sagt, gibt es Gelächter im Publikum, denn kaum jemand passt wohl so schlecht zusammen wie Hannah und Sebastian. Außer eben: Roman und Magdalena. Sebastian und Magdalena sind alte Welt: Er ein Kulturhistoriker, ein nicht unsympathischer etwas ziel- und planloser Ironiker, der die Errungenschaften der Moderne ablehnt; sie eine etwas naive, wenig emanzipierte und romantischen Vorstellungen zuneigende Tierphysiotherapeutin. Beide tun sich schwer, auf eigenen Beinen zu stehen. Hannah und Roman dagegen repräsentieren die Welt von Heute: ehrgeizig, erfolgsorientiert, auf ihren Beruf fokussiert, sie mit Restsehnsüchten nach einem Familienleben (und einer ziemlich ausgeprägten nach einem Kind), er ein scheinbar rationaler Technik-Freak mit Kontrollwahn, nicht nur unter stetem Zeit-, sondern auch unter Performance-Druck, ein Macho, bei dem auch die sexuellen Gelüste eher mit Mechanik als mit Biologie oder Gefühl zu tun haben. Alle haben ihr eigenes Geheimnis, von dem sie glauben, dass ihr Partner es nicht kennt.

Die Berner Version sei, so Till Briegleb vom Auswahlgremium der Mülheimer „Stücke“ zum Zeitpunkt der Nominierung, die schlichteste und pointierteste der inzwischen sieben realisierten Inszenierungen. Man habe eine psychologische Erklärungsweise der Figuren angestrebt und vermeiden wollen, dass die vier Charaktere zu Karikaturen verkommen, sagt Mathias Schönsee, der Regisseur dieser Aufführung. Daher habe man häufiger die Bremse ziehen müssen, um Entwicklungen der einzelnen Figuren zulassen zu können. – Diese Zurückhaltung tut der Rezeption des Stücks jedoch nicht unbedingt gut: Der dem Text innewohnende Witz wird häufig nicht effektiv herausgekitzelt; manche Dialoge wirken langatmig bis langweilig; die vielen verschiedenen Themenbereiche, die Rinkes Text scheinbar leichthin, aber nicht ohne Tiefgang streift (Sexualität im Internet-Zeitalter und unter beruflichem Stress, Banker-Bashing, Technikhörigkeit, Verlorenheit und Sinnsuche des Menschen in einer bis ins Detail erforschten Welt, Abkehr von alten Kulturen und Wertvorstellungen etc.) werden eher technokratisch abgehandelt als dass eine Fokussierung auf bestimmte Konfliktthemen erfolgt. Insgesamt gerät der Berner Abend in einer bislang (nach sechs von acht gezeigten Stücken) starken Reihe von Festival-Stücken zu einer enttäuschend zähen Angelegenheit.

In Oliver Reeses Uraufführungs-Inszenierung desselben Stücks, die sechs Tage später in Recklinghausen gezeigt wurde, hört der Frankfurter Sebastian Marc Oliver Schulze von Beginn an perfekt auf die elegante Ironie und die stilsicheren Pointen des Texts. Das gelingt Oliver Reese auch in boulevardeskeren Zusammenhängen: Der Entsafter ist in Frankfurt zwar noch nicht verpackt und muss daher nicht als sexuelle Metapher herhalten. Aber zweideutige Doppeltöne, die wir in Mülheim überhört hatten, bringen Reese und seine hervorragenden Schauspieler zuhauf zum Vorschein: Worte wie „Tauschpartnerschaft“ (für den Wohnungstausch), Romans lüsterne Nachfrage nach der Schreibweise des Namens Hannah (mit –h-: „von vorn und von hinten?“), seine obszöne Anmache „Bist du eigentlich in irgendeinem Portal?“ u. v. a. m.

Oliver Reeses Frankfurter Inszenierung ist lustiger, aber auch bitterer, trauriger als die Berner Variante. Schönsee mildert Reeses Pessimismus in Bern ab: Reste von Zuneigung geben zu Beginn Hoffnung für die Beziehung zwischen Hannah und Sebastian, und anders als in Frankfurt scheint am Ende des Berner Abends die Entstehung einer neuen Partnerschaft möglich. In Frankfurt nimmt die bereits zu Beginn erkennbare Abneigung Hannahs gegen ihren phlegmatischen Lebensgefährten der Beziehung ihr Flirren und ihre Vieldeutigkeit, doch stattdessen zieht Constanze Beckers Magdalena gleich mit ihrem ersten Einsatz eine zweite, tragische Ebene in die Aufführung ein: eine tiefe Unsicherheit, eine melancholische Trauer über die Rationalität in ihrer Beziehung zu Roman. Becker, die düstere, statuarische Tragödin aus Thalheimers Medea, kann zur Überraschung aller auch Comedy vom Feinsten – aber melancholisch grundiert. Viel früher als bei Sophie Hottinger in Bern (die allerdings eine schauspielerische Glanzleistung als langsam, aber unaufhaltsam ins Alkoholsäuseln abgleitendes Honey-Double aus Virginia Woolf abliefert) wird Magdalenas eheliches Unglück deutlich. Während Mathias Schönsee mit der von ihm beabsichtigten Entwicklung der Figuren argumentiert, gibt Reese dem Stück mit der Figur der traurigen Magdalena und ihrer Sehnsucht nach Romantik von Beginn an eine zweite, tiefere Dimension. – Auch die Entlassung von Roman, die dieser durch konsequentes Ignorieren des Kündigungsbriefes verdrängt, teilt sich dem Publikum in Frankfurt früher mit als in Bern – feine Zwischentöne zeigen die daraus resultierenden psychologischen Konsequenzen. Wie erschütternd ist doch die Tanzszene des Ehepaars, in der jeder: Magdalena, Roman und das Publikum längst mehr weiß als der jeweils andere glaubt. Im Hintergrund sehen wir das Video vom Weltall, in das Romans Rakete gestartet ist: „Dieses schwarze, menschenleere Nichts ist die Realität?“, hatte Magdalena verzweifelt gefragt. – Die gleiche Szene in Bern wirkt eher wie eine Sehnsuchts-Sequenz; völlig losgelöst träumten sich da zwei in eine bessere Welt. In Frankfurt sieht man die ganze Verlorenheit des modernen Menschen.

Wer jetzt noch lacht, der tut es mit einem Kloß im Hals. Mitten in den missglückten Versuch von Claude de Demos Hannah, Roman zu verführen, platzt Constanze Becker mit dem Kündigungsbrief herein - und das Erschrecken ist mit Händen greifbar: Nicht das Erschrecken Romans, in flagranti erwischt zu sein, sondern das über die unausweichlich drohende Öffnung des Briefs. Sebastian kommt mit einem Blumenstrauß – mehr fehl am Platze war noch niemand, und Sebastian weiß es. Und Magdalena erzählt von Romans Sex-Puppe, auch so ein Geheimnis, von dem alle wissen. Vor lauter Verzweiflung wäre sie bereit, beim Sex zur Puppe zu mutieren, um Romans Liebe zu gewinnen. Sie tut es nicht aus Angst: „Wenn er merkt, dass ich es weiß, muss ich ihn doch verlassen…“

Das kann man lustig finden, wie auf dem Boulevard. Doch Reese zeigt Empathie mit den Figuren. Die Tränen, die dieses bürgerliche Kammerspiel hervorzurufen versteht, sind nicht nur Lachtränen. Das Stück ist Boulevard, und es ist an der einen oder anderen Stelle vielleicht zu redselig. Man sollte es nicht zu ernst nehmen wie in Bern. Mag sein, dass man noch Inszenierungen erleben wird, die die gesellschaftskritischen Untertöne von Rinkes Text stärker hervorbringen als Oliver Reese dies in Frankfurt tut. Aber leichtgewichtig und oberflächlich ist dessen Uraufführungs-Inszenierung nicht. Man muss nur hinhören.