Übrigens …

Geschichten aus dem Wiener Wald im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Gruppenbildung der Teilnahmslosen

Inmitten der Bühne ein riesiges, geschwungenes Konstrukt, wie für Skateboardfahrer gedacht. Wer mag, kann darin ein bildmächtiges Symbol erkennen – für das Auf und Ab des Lebens. Jedenfalls blicken wir einer unebenen Spielfläche entgegen, erdacht von Hugo Gretler, als Tummelplatz für eigenartige, stolze, derangierte, zerbrechliche, letzthin gebrochene Menschen. Die zu zweit oder in Gruppen interagieren, oft nur steif geradeaus blickend, dann wie unter Betäubung redend – und alles mündet in lähmende Stille.

Wieder einmal präsentiert sich das Theater als Hort des Purismus. Diesmal in Enrico Lübbes Inszenierung der Geschichten aus dem Wiener Wald. Premiere war letzten Sommer am Berliner Ensemble. Nun gastiert die Bühne mit Ödön von Horváths Volksstück bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Die Deutung erinnert stark an Michael Thalheimers Regie, der am Deutschen Theater Berlin vor kurzem sein Ensemble auf nahezu leerer Bühne in den Fokus stellte und jede Figur einer Vivisektion unterwarf.

Doch wo dieser es schaffte, einen Charakter schon aus dessen Bewegungen klar zu zeichnen, muss sich Lübbe erst langsam herantasten an dieses Völkchen aus Gescheiterten, Emporkömmlingen, Rechtschaffenden, Halunken und Glückssuchern. Um sie dann darzustellen als die Andeutung, die Schablone einer Person. Das Ensemble spielt aufopferungsvoll und lässt doch die letzte Konsequenz an Entäußerung vermissen. Empörende Worte krachen nieder, infame Drohungen werden ausgestoßen, man verletzt einander subtil die Seele - und dies in einer oft völlig teilnahmslosen Sprachmelodik.

Wo Thalheimer sich als großer Virtuose erwies, bis hin zur Auswahl der Musik, die Glanz und Elend der Stadt Wiens illustrierte, belässt es Lübbe bei klingenden Fingerübungen. Bert Wrede hat ihm dazu sanft tönendes Klaviermelos geschrieben, durch elektronisches Aufwabern verstärkt – so unheimlich wie abstrakt wirkend. Und wenn Marianne, die ihren Verlobten Oskar stehen lässt, mit dem Taugenichts Alfred durchbrennt, die ein Kind aber kein Geld von ihm hat und im „Maxim“ auftreten muss, wenn diese Verlorene also das traurige „Lied von der Wachau“ singt, dann „flötet“ sie’s ganz beherzt. Als Bewerbungsstück eben, um ins „Maxim“ zu kommen.

Dort tönt die Weise noch einmal, wenn Marianne als Bühnenhimmelartistin ihr Bestes gibt. Ein Song, mehr nicht, verstärkt die Show untermalend. Wie elend dieses Mädchen eigentlich dran ist, bei Thalheimer hat man es gesehen, als es barbusig dastand und mit brüchiger Stimme die Wachau-Idylle beschwor.

Hier, im Berliner Ensemble, gibt Johanna Griebel die Marianne, eine Kindfrau, wobei die Betonung auf Kind liegt. Ein trotziges Mädchen, das es satt hat, von der Welt (den Männern) herumgestoßen zu werden. Deren Protest aber wenig emanzipiert klingt. Wie auch Boris Jacoby dem Oscar zwar sanfte Melancholie verleiht in seiner Gottgefälligkeit, doch nie als Bedrohung erscheint („Du wirst meiner Liebe nicht entgehen, Marianne“.). Wie auch Alfred (Sabin Tambrea) nicht ein echter Hallodri ist, eher ein hemdsärmeliger Aufschneider, der durch sein Leben stolpert.

Der wie nebenbei die Trafikantin Valerie verlässt, die sich, in Gestalt von Angela Winkler, in die innere Emigration zurückzieht. Oft mit brüchiger Stimme, ein bisschen weinerlich, kaum aber als große tragische Figur. Auch Mariannes Vater, der alte Zauberkönig (Roman Kaminski), der anfangs noch Autorität zelebriert, stürzt nicht hinab ins Bodenlose, wenn er vom Nachtclubschicksal seiner Tochter erfährt.

Und am Ende, wenn es zum großen Versöhnen kommt, was in Enrico Lübbes Regie einen beinahe geschäftsmäßigen Eindruck hinterlässt, lässt die Tragödie, die ja noch folgt, die Menschen verstummen, ins Leere stieren. Mariannes Schrei, weil doch ihr Söhnchen Leopold an einer Erkältung gestorben ist, bewirkt dabei nur halb so großes Erschrecken im Vergleich zum feixenden Gejohle von Alfreds Großmutter (Gudrun Ritter) – das uneheliche Kind ist weg. Das geht an die Nieren. Aber es fehlt der Geschichte in ihrem Innern an Eskalationspotenzial, weil sich die Figuren nicht voll entfalten können.