Übrigens …

Das Mädchen aus der Streichholzfabrik/Die Letzten im Köln/Bochum

Beckmann-Dämmerung in NRW

Es ist Beckmann-Dämmerung in NRW: Lina Beckmann, in den letzten Jahren mehrfach von der Kritik zur Schauspielerin des Jahres in Nordrhein-Westfalen gekürt, verlässt das Schauspiel Köln und geht mit Karin Beier nach Hamburg, ihre ältere Schwester Maja, seit 13 Jahren im Ensemble des Schauspielhauses Bochum, sucht eine neue Herausforderung in Stuttgart. Beide hatten nun ihre letzten Premieren an ihren alten Häusern – Lina mit gewohnt frecher Schnauze als Ljubow in Maxim Gorkis Die Letzten in Köln, Maja fast stumm als Iris, Das Mädchen aus der Streichholzfabrik, in Bochum. In Bochum geriet die Aufführung zur Hommage an einen Publikums-Liebling; in Köln weint man die Abschiedstränen in Erinnerung an bessere Abende.

 

Das innere Leuchten des Prekariats: Maja Beckmann spielt Kaurismäki in Bochum

Zum dritten Mal innerhalb von vier Jahren zeigt das Schauspielhaus Bochum die Dramatisierung eines Kaurismäki-Films – nach I Hired a Contract Killer von Jorinde Dröse und Barbara Haucks Regie-Debut mit Das Leben der Bohème darf nun Hausregisseur David Bösch, der ebenfalls seinen Ausstand gibt und ab der kommenden Spielzeit in Wien inszenieren wird, sich mit einem mutmaßlich für das Sprech-Theater besonders schwierigen Stoff beschäftigen. Mit dem „Film fast ohne Worte“ nämlich – einem für den finnischen Melancholiker und Erfinder skurriler, trauriger Arme-Leute-Schicksale Aki Kaurismäki typischen Stoff, in dem so gut wie gar nicht gesprochen wird: Eine geschlagene Viertelstunde dauert es, bis dass bei Kaurismäki das erste Wort fällt.

Bei David Bösch geht das schneller. Der einzige, der nennenswerte Anteile an Text hat, ist Daniel Stock, der die Regieanweisungen spricht und in zumindest rudimentärem Ausmaß als Erzähler durch die Geschichte führt. Ob das geschickt ist, sei dahingestellt: Stock, der auch die Rollen von Iris‘ Bruder Simo und Iris‘ Liebhaber Aarne spielt, hat großartige nonverbale Szenen; seine Erzähler-Passagen gehören dagegen zu den Schwächen des Abends, die die von Bösch und seinen Schauspielern sowie von Lichtmeister Denny Klein aufgebaute poetische Stimmung zu gefährden drohen. Die Handlung hätten wir auch so kapiert. Die ist – typisch Kaurismäki – recht einfach:

Iris arbeitet in der Streichholzfabrik. David Bösch stellt sie dazu ans Fließband – das kennt man in der Opel-Stadt, und man weiß, dass das eintönig und stupide sein kann. Auf der Bühne ist es stupide, anstrengend – und hinreißend poetisch. Denn Bühnenbildnerin Franziska Gebhardt hat ihre Fabrik als großartige Metapher der Vergeblichkeit gestaltet: Iris strampelt auf einem Ergometer für Arme, und der setzt ein Förderband in Gang, auf das der Vorarbeiter kleine Holzpartikel schüttet. Die fallen am Ende des Bandes einfach zu Boden. Sind sie allein durch den Transport zu Streichhölzern geworden? Es würde an ein Wunder grenzen – ebenso wie wenn Iris sich irgendwann aus der Tristesse ihres ärmlichen Industriearbeiterinnenlebens befreien könnte: Zu Hause lauern ihr die Eltern auf und knöpfen ihr den kargen Wochenlohn ab – Anne Knaak im schlampigen Morgenmantel mit Lockenwicklern im Haar, Matthias Redlhammer in nicht weniger schlampiger, viel zu weiter Trainingshose. Schlaffe Schluffis alle beide, die stumm ihre Suppe löffeln; Mutter schluckt Pillen und Vater zappt mit der Fernbedienung zwischen Autorennen, Tatort und Lindenstraße hin- und her. „Die Ernüchterung kommt noch früh genug“, prophezeit die Lottofee aus dem TV.

Ernüchternder kann das Leben kaum sein, aber Iris fasst sich ein Herz und kauft sich ein rotes Kleid. Der ganze Lohn geht dafür drauf, doch Maja Beckmann hat nach 30 Minuten Auftrittsdauer ihren ersten Satz: „Schließlich erhalte ich, was mir zusteht.“ Das rote Kleid bringt ihr noch mehr ein: einen einzigen Moment flüchtigen Glücks mit dem Gigolo Aarne, das selbst die Förderbänder in Disko-Beleuchtung funkeln lässt. Und ein Kind im Bauch. „Sieh zu, dass du es los wirst“, sagt ihr One Night Stand, den sie für die große Liebe hielt – herzlos, aber pragmatisch. Iris kauft Rattengift. - Nein, nein: die stumme, unglückliche graue Maus, die zwischenzeitlich an Frl. Rasch aus Franz Xaver Kroetz‘ Wunschkonzert erinnert, bringt sich nicht um. Der Ma-Ma-Ma-Ma-Märchenprinz und die dumpfbackigen Eltern kriegen das Gift ins Essen gemischt. Und Iris wird abgeführt. Ihre Maschine, das öde, nutzlose Förderband, läuft einfach weiter. Wer auch immer die Pedale tritt…

Trotz des überzeugenden Bühnenbilds und der die Prekariats-Tristesse wunderbar unterstreichenden Figuren und Kostüme bleibt die Aufführung verhältnismäßig karg. Wenn schon der Textanteil an der erzählten Geschichte im Vergleich zum Film durch die fragwürdige Einführung eines Erzählers signifikant erhöht wird, hätte man auch im Hinblick auf Musik und Lichteffekte voll auf die Sahne hauen können. Doch nicht einmal Kurt Cobain erklingt, der früher in jeder Bösch-Inszenierung seinen Auftritt hatte – in finnischen Diskos gibt es nur triste, monotone Musik, aber mit ein paar kitschigen oder bombastischen Film-Melodien hätte man dem Affen Zucker geben können. Vielleicht nicht Kaurismäki-like, aber theaterkompatibel. Die eigentlich wunderbaren Ideen, mit denen Bösch poetische, melancholische Momente heraufbeschwören will, wirken arg zurückgenommen und defensiv. Dennoch haben Matthias Redlhammer und Anne Knaak als Eltern und Daniel Stock als hemmungsloser Möchtegern-Womanizer, der sich später von Iris in die Enge getrieben fühlt, große Momente in ihren nonverbalen Szenen.

Eine absolute Show aber ist Maja Beckmann, diese in 13 Bochumer Jahren kontinuierlich immer stärker aufspielende Schauspielerin, die in ihrer letzten, aus einem kleinen, im Grunde unbedeutenden Film stammenden Rolle eine flirrende, vielschichtige Charakterstudie macht: trist, melancholisch, dumpf, aber mit innerem Glühen, mit anrührend aufflackerndem Lebenswillen und herzergreifenden Glückserwartungen – und am Ende mit einer so lakonischen wie diabolischen Konsequenz. Das ist großes poetisches Theater.

 

Prekariat auf Rollschuhen: Lina Beckmann und Die Letzten in Köln

Ihre jüngere Schwester Lina, von der Maja längst an überregionaler Beachtung überholt worden ist, verabschiedet sich in Köln mit einem großen Drama der Weltliteratur – und einer eher untergeordneten Rolle. Und leider mit einer Inszenierung, die auch ihr gewohnt zupackendes, prägnantes und höchst individuelles Spiel nicht retten kann.

Dass Maxim Gorki den sich abzeichnenden Untergang des russischen Adels und der Bourgeoisie in der ausgehenden Zarenzeit nicht gerade bedauerte, ist hinlänglich bekannt. Und dass Andrea Breths hymnisch gelobte, zur Aufführung des Jahres 1989/90 gewählte Inszenierung von Gorkis Die Letzten am Schauspielhaus Bochum die Erstarrung einer Gesellschaft doch mit reichlich viel Tschechow-Elegie beschrieb, dämmerte einem schon damals. Aber dass die moralisch verkommenen Kolomizews eigentlich eine prollige russische Prekariatsfamilie waren – diese Erkenntnis hat Regisseur Sebastian Nübling exklusiv für sich. Tatsächlich lässt er eine Art von Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen (Karin Beier 2010) spielen, nur nicht im Glascontainer, sondern auf Rollschuhen. Trotz der deutlichen Hinweise des Bühnenbildes auf die politische und sozialpolitische Dimension des Dramas verkleinert Nübling das Stück zur Familien-Farce.

Da werden die mikroportverstärkten Stimmen der Schauspieler ins Laute und Schrille aufgedreht, sämtliche Akteure zu einer extrem exaltierten Spielweise angehalten, und permanentes Schreien ohne jede Zwischentöne geht auf die Nerven. Markus John als ehemaliger Polizeichef Iwan Kolomizew ist zumindest ein Typ, ein Charakter: egozentrisch spielt auch er, aber das passt zu dem Mann mit in vielfacher Hinsicht problematischer Vergangenheit. Der Säufer und ehemalige Folterer, der seine Tochter Ljubow zum Krüppel geschlagen hat, gibt den jovialen, selbstverliebten, unverschämten, trickigen Macho überzeugend; er findet auch selbstironische Untertöne und gibt ausgerechnet der unsympathischsten Figur des Stückes Facetten. Julia Wieninger als seine Gattin Sofja, die sich in ihren Kölner Jahren von der Ergänzungsspielerin zu einem der Stars des Ensembles entwickelt hat, ist dagegen die falsche Besetzung für diese Art Krach mit Grölsoße. Positiv zu erwähnen ist Jennifer Frank, die die Rolle der Wera erst nach der Premiere übernommen hat, in der Marie Rosa Tietjen über ihre Rollschuhe gestolpert war und sich ein Bein gebrochen hatte. Frank meistert die Herausforderung souverän. Die Kleine zeigt Größe, als sie sich aufopfert für die Familie; ihr pessimistisches Fazit ist berührend und bringt eine Spur von Trauer, sogar von Zauber in die Aufführung – einen kleinen, dunklen Lichtblick.

Wieder aber haben wir Anlass, Lina Beckmann nachzutrauern, die ihrer Chefin nach Hamburg folgt. Die bucklige Tochter Ljubow, ungeliebt und ausgenutzt, mault herum, ist patzig und schlägt gelegentlich auch mal zu. Nachvollziehbar – sowieso in dieser verkommenen Familie, aber erst recht, wenn wir erfahren, dass Vater Iwan sie nicht nur zum Krüppel schlug, sondern auch gar nicht ihr leiblicher Vater ist. Sie erkennt den richtigen, und da verfliegt ihr zur Schau getragener Zynismus, da ergreift sie erwartungsfrohe, positive Aufregung – und dann fordert sie in einem der wenigen anrührenden Momente des Abends: „Wir gehn jetzt kuscheln. Ich habe noch nie gekuschelt. – Ihr fangt an.“ – Ergreifend.

Einmal übrigens fährt Lina Beckmann wie eine etwas erwachsenere Reinkarnation der Bibi Blocksberg auf ihren Rollschuhen einmal ums Bühnenrund. Tritt auf, dreht eine Runde und verschwindet wieder. Scheinbar völlig unmotiviert. Sie setzt ein Zeichen: Hier bin ich, euer schlechtes Gewissen. Es ist auffällig, dass solche kleinen, unauffällig-auffälligen Zeichen immer wieder von Lina Beckmann kommen – in den unterschiedlichsten Inszenierungen von den unterschiedlichsten Regisseuren. Diese manchmal so extrovertiert agierende Schauspielerin hat ein Gespür für die Wirkung kleinster Gesten und Zwischentöne. Wer zeigt uns das in der kommenden Spielzeit noch?

Wir in Nordrhein-Westfalen werden lange Eisenbahnfahrten zurücklegen, um die beiden Beckfrauen künftig erleben zu dürfen. Auf der Reise werden wir Tschechow lesen und an Warja denken. Oder Dostojewski und von Fürst Myschkin schwärmen. Oder auf dem Laptop Filme gucken, Kaurismäki oder Fassbinder, und uns an Betti Klenze oder Iris erinnern. Die BahnCard ist schon bestellt.