Vom Virus und vom Zweifel angefressen
Sister Act: Eine Koproduktion mit Burkina Faso zeigt Furcht und Hoffnung in der interkulturellen Familie
Karin Kettling ist geradezu die Idealbesetzung für diese Rolle. Nicht mehr ganz jung, aber attraktiv, meist zurückhaltende und leicht verklemmte Charaktere verkörpernd – so kennen wir sie von vielen Aufführungen an nordrhein-westfälischen Theatern. Und so gibt sie die Brigitte, die Verlobte des 15 Jahre jüngeren Moussa (Sidiki Yougbaré), eines erfolgreichen, relativ integriert scheinenden jungen Afrikaners in einem europäischen Land. „Morgen ist der schönste Tag in meinem Leben“, sagt Moussa gleich zu Beginn – es bahnt sich eine Hochzeit an. Brigitte dagegen scheint Angst zu haben; offenbar hat bereits ein Entfremdungsprozess zwischen ihr und Moussa eingesetzt. Spät erst entwickelt sich die Erkenntnis, dass Moussa zwar heiraten wird, aber nicht Brigitte, sondern Fatou. Die ist seine Schwester – und die Hochzeit dient der Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung für die illegal ins Land eingereiste Verwandte. In einer polygamen Gesellschaft großgeworden und von einem anderen Vater abstammend, trägt Fatou einen anderen Hausnamen – angesichts des üblichen Wirrwarrs mit Identitätspapieren in Afrika wird das Verwandtschaftsverhältnis kaum auffallen.
Wenn es denn ein Verwandtschaftsverhältnis ist. Ganz tief drinnen zweifelt Brigitte; zweifelt auch Sebastian, der Sohn von Brigittes mütterlicher Freundin Karin, die Trauzeugin werden soll. Sebastian spricht all das an, was dem pragmatisch-realistischen Westeuropäer bei dieser Konstellation einfällt: Illegalität, Gesetzesverstöße, Ehe- und Liebes-Betrug, Erschleichung des Vertrauens einer Einheimischen durch einen Migranten zum Zwecke der Bereicherung der eigenen Familie. Und selbst wenn Fatou tatsächlich Moussas Schwester ist: Wie wird sich ein künftiges Leben zu Dritt gestalten?
Es ist ein Stoff, wie er naheliegt für eine deutsch-afrikanische Koproduktion - Ombres d’espoir wurde geschrieben von einem jungen kongolesischen Dramatiker; Regie führte der bekannte burkinabeische Film- und Theater-Regisseur Dani Kouyaté, und das Ensemble besteht aus burkinabeischen sowie vom koproduzierenden Theater im Bauturm gecasteten deutschen und österreichischen Schauspielern. Es ist aber auch ein Stoff, der eine gefährliche Nähe zu Stereotypen hat, der entsprechend höchst sensibel inszeniert und gespielt werden muss – oder aber komödiantisch-grotesk. Letzteres ist die Sache von Wilfried N’Sondé und Dani Kouyaté nicht; sie wollen die Konfliktsituation ernsthaft und mit psychologischem Einfühlungsvermögen darstellen und Anstöße zum Nachdenken geben. Ersteres, also die sensible Vermeidung von Stereotypen, gelingt meistens, aber nicht immer.
Unaufdringlich, ohne erhobenen Zeigefinger, dennoch auch für den letzten Zuschauer im Parkett begreiflich zeigt die Inszenierung die Unterschiede zwischen der europäischen und der afrikanischen Kultur auf, die die Folie für den für Moussa, Fatou und Brigitte durchaus existenziellen Konflikt bilden: die rationale, auf das persönliche Glück bedachte Denk- und Verhaltensweise der Europäer und die traditionelle, dem Primat der Verantwortung für die Großfamilie folgende Denkweise der Afrikaner – mit einem Loyalitäts-Kodex, der Menschen wie Brigitte oder Sebastian fremd ist. Abwechselnd wird die Geschichte in Dialogen und monologischen Innenschauen erzählt; mit viel Geschick entwickeln Autor und Regisseur die Denkmuster und Bewusstseinszustände der Figuren. Sayouba Jacob Bamogos Licht-Design – Wechsel zwischen hell und dunkel, manchmal nur als Schattenrisse dargestellte Schauspieler, manchmal völlig aus dem Dunkeln agierende Figuren – sowie die sensibel eingesetzte Musik illustrieren die Seelenzustände der Protagonisten.
Problematisch wird es immer dann, wenn folkloristische Elemente Eingang in die Aufführung finden: Karins afrikanische Muster zitierendes Batikkleid erscheint als etwas übertriebene Metapher für ihre auf den Europäer reichlich realitätsfern wirkende Gutgläubigkeit; als sie ihre Kleidung wechselt, nachdem ihr Sohn Sebastian Zweifel an Brigittes Geschichte gesät hat, wirkt dies etwas dick aufgetragen. Für europäische Augen besonders fragwürdig aber erscheint die Darstellung der Fatou. Edoxi L. Gnoula ist eine begnadete Tänzerin und Bewegungskünstlerin und eine charismatische Darstellerin alter afrikanischer Mythen, aber dass sie die nach Europa geflüchtete, auf Emanzipation und Gleichberechtigung mit der weißen Frau und auf die Erlangung von Unabhängigkeit durch eigene Arbeit pochende Afrikanerin wie eine Inkarnation einer westlich-kolonialistisch geprägten Vorstellung von einer Wilden spielt, denunziert ihre Figur eher als dass es ihr Glaubwürdigkeit verschafft. Fraglos will die Inszenierung durch diese Überspitzung auf die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Migrantin und der Realität in den westlichen Industrieländern hinweisen; möglicherweise zitiert Gnoula auch Metaphern aus einer Kultur, die der gemeine Rheinländer eben nicht versteht …
„Man muss den Konventionen entkommen“, sagt Franziska Winterbergs Karin einmal in Erinnerung an eine vielleicht zu früh abgebrochene Beziehung zu einem fahrenden Artisten. Am Ende legt Fatou Kleidung und Gehabe der Wilden ab, als der zunächst ebenfalls in Konventionen gefangene Sebastian (Bernhard Bauer) ihrem exotischen Charme erliegt. Es wäre ein fast schon kitschiges Ende. Es ist aber wohl eher ein Traum. Ein Traum von einer vollkommen vorurteilsfreien Welt, die zu erreichen noch viele Generationen dauern wird. Brigitte denkt an die morgige Hochzeit. Ihre Gedanken erscheinen eher düster.
Big Brother: In einer kongolesischen Produktion steckt Vater Staat seine Bürger ins Loch
Das Theater im Bauturm, das das Festival „africologne“ mit dem Monolog M’appel Mohamed Ali von Dieudonné Niangouna eröffnet hatte (siehe hier), zeigt ein weiteres Solo-Stück des kongolesischen Dramatikers und Festival-Machers, diesmal aufgeführt von der Compagnie Nsala aus dem Heimatland des Autors und uraufgeführt bei dem von Niangouna kuratierten Festival Mantsina in der kongolesischen Hauptstadt Brazzaville. Wiewohl ein Ein-Personen-Stück, erscheint es als das komplexeste, in seinen ästhetischen Mitteln abwechslungsreichste und kreativste sowie als das burleskeste und unterhaltsamste der drei Gastspiele, die der Autor dieser Zeilen bei „africologne“ gesehen hat. Wenn man aber wie dieser nur über rostiges Schulfranzösisch verfügt und daher zum Verständnis auf die deutschsprachige Übertitelung zurückgreifen muss, entzieht sich die Aufführung einer Detailkritik: Temperamentvoll und in hohem Sprechtempo tobt Harvey Massamba durch das Stück, so dass die Übersetzung nur ca. 25 Prozent der gesamten Textmenge erfasst. Die linguistischen Feinheiten, der Sprachwitz und die vielfältigen Bezüge der einzelnen, sehr heterogenen Textteile zueinander gehen dem mitlesenden Zuschauer verloren. Sogar Massamba selbst, nicht nur Schauspieler, sondern gleichzeitig Regisseur und Bühnenbildner der Aufführung, berichtet, dass er während der eineinhalb Jahre, die seit der Uraufführung vergangen sind, immer wieder neue subtile Nuancen und Bezüge in Niangounas erstaunlichem Werk aufgespürt und dadurch ein neues Verständnis für den Text entwickelt habe. Die Aufführung sei daher seit Dezember 2011 kontinuierlich weiterentwickelt worden.
Ausgangspunkt von Niangounas Text ist eine wahre Geschichte. Einer der größten Diebe des Landes, um den sich geradezu mythische Geschichten rankten, wurde tot aufgefunden; offensichtlich ist er zum Opfer eines Mordes geworden. Nur er selbst, Victor, weiß, dass er noch am Leben ist, aber selbst er zweifelt irgendwann daran. Victors nach seinem angeblichen Tod geplantes krummes Ding scheitert. Ohne offizielle Existenz wird sein Leben unklar, zweifelhaft. Sein Sohn betrachtet ihn als einen Unbekannten; seine Frau verlässt ihn für einen Nachbarn.
Soweit, so klar. Eine Art Krimi also, die Lebensgeschichte eines kleinen kongolesischen Gauners? Weit gefehlt! Es entwickelt sich in abstrusen Gedankensprüngen und anhand der absurdesten Beispiele und Anekdoten ein Sittenbild des korrupten Landes, ein globalisierungskritisches Polit-Theater, eine bissig-komödiantische Betrachtung der Beherrschung der Welt durch die IT und das Finanzsystem. In einer extrem verschachtelten, abenteuerlich verstiegenen Konstruktion führt uns die Geschichte den Zustand des Gefangenseins in einem System, „das uns wie Küken in einem Geflügelhof hält“, vor Augen – und gemeint ist das politische System ebenso wie das Finanzsystem oder das Computersystem. Irgendwie ist es also auch ein großes Weltendrama, dargeboten mal in temperamentvoller Gossensprache, mal mit reflexiven Momenten, mal mit geradezu occupyhaften Polit-Parolen. Selbst für den nur rudimentär der französischen Sprache folgen könnenden Zuschauer ist das atemberaubend, witzig und spannend, zumal Harvey Massambas extrovertiertes, oft burleskes und humorvolles Spiel uns jede Minute gefangen hält.
Massamba ist zwar der einzige Schauspieler in diesem Monolog-Stück, aber er interagiert mit einem faszinierenden Video, für das der französische Fotograf Nicolas Guyot verantwortlich zeichnet. Er agiert weitgehend verborgen hinter einer zeltartigen Leinwand, in deren Mitte ein kreisrundes Loch klafft, in dem der Schauspieler immer wieder erscheint. Dieses Loch repräsentiert das System, den Staat, von dem nichts zu holen und nichts zu erwarten ist. Dort hinein hat der Staat den Menschen gesetzt, seine „fünf Milliarden Sklaven“: Kaum tauchen sie auf, macht Guyots Projektion einmal „Patsch“ mit der dicken Klatsche. Die das Loch umgebende Leinwand wird geradezu bombardiert mit den großartigen Bilderfindungen Guyots – mit Illustrationen der Gedanken Massambas und Niangounas, mit den Gegenspielern des Ich-Erzählers, mit Straßenszenen oder auch mal nur symbolischen Chiffren. Am Ende, so scheint es, wird der Ich-Erzähler aufgefressen – von den Viren seines PCs. Versprochen: Die stammen nicht von der theater:pur-Seite.