Übrigens …

Antigone im Theater Münster

Conflict of Interest

Aikido ist eine moderne japanische Kampfkunstart. Die hat Florian Steffens gemäß Angabe auf seiner Profile Card gelernt. Diese Fähigkeit war wohl eine gute Basis für seinen Auftritt. Bei Maximilian Scheidt steht nur was von Jonglage und Tango Argentino – das hat mit dem, was Steffens und er in den ersten Minuten der Münsteraner Antigone vorführen, nicht die Bohne zu tun. Kampfchoreograph Klaus Figge, eine Legende in der nordrhein-westfälischen Theaterlandschaft, hat ganze Arbeit geleistet.

Minutenlang verfolgen wir atemlos einen Ringkampf. Zwischen Florian Steffens und Maximilian Scheidt. Zwischen Eteokles und Polyneikes. Eigentlich hat der Fight längst stattgefunden, wenn Sophokles seine Tragödie beginnen lässt. Aber er ist der Auslöser für das Desaster, das folgen wird und das nur Leichen oder Unglücksraben hinterlässt. Denn Eteokles und Polyneikes schlagen sich gegenseitig tot. Der eine will die Stadt verteidigen, der andere sie erobern; der eine klammert am Posten, auf dem er sich eigentlich mit dem anderen abwechseln wollte, der andere will sein Recht einfordern. Aber das tut nichts zur Sache: Jetzt sind sie beide tot, und für den einen erteilt König Kreon die Erlaubnis zum Begräbnis, den anderen mögen die Hunde fressen. Das ist schon bei Sophokles als Rückschau eine steile Eröffnung – bei Regisseur Stefan Otteni in Münster wird es noch rasanter: Poly und Ete kämpfen wie ums Olympia-Ticket. Das Publikum sitzt in der engen Arena auf niedrigen Schaumstoffblöcken um die Street Fighter herum, und deren Extremitäten fliegen einem fast ins Gesicht. Gesprochen wird kein Wort. Es ist, man glaubt es nicht: richtig spannend. Bis zum letalen Ende.

Die Olympic Sports Arena ändert ihre Bestimmung. Auftritt Kreon. In Alltags-Klamotten, ein Politiker unserer Zeit. Die ovale, von senkrechten weißen Stoffbahnen umschlossene Spielfläche, innerhalb derer wir uns unseren Platz gesucht haben, wird zum heimeligen Marktplatz einer Kleinstadt, wahlweise auch zum Saal im Ratskeller, in dem ein sachlicher, etwas biederer, aber nicht unsympathischer Polit-Profi uns, das Volk, von seiner Interpretation von Recht und Ordnung und Moral überzeugen will. Der weiche weiße Versammlungsplatz ist psychologisch ein idealer Ort für solche Rattenfängerei, und so freundlich und logisch wie Mark Oliver Bögels Kreon sein Wertesystem begründet, wären viele von uns ihm sicher gefolgt. Doch als die Sache mit dem Begräbnis zur Sprache kommt, da blitzt es doch ein wenig auf, das Böse hinter der biederen Fassade: Der eine mag begraben werden, und den anderen mögen die Hunde fressen.  

Das ruft Antigone auf den Plan. Die bringt bekanntlich ihren toten Bruder gegen den Willen des Herrschers unter der Erde. Auch sie, ebenso wie ihre Schwester Ismene und ausnahmslos alle anderen Figuren, trägt Alltagskleidung und tritt unmittelbar aus dem Publikum auf. Die erbarmungslosen Spiele um Macht und Widerstand, um tradierte, den Göttern geschuldete ethisch-moralische Grundsätze und kurzfristig dem Machterhalt dienende menschengemachte Regeln gehen auch uns an. In die ohnehin schon stark modernisierte Übersetzung von Claus Bremer, Rolf Becker und Gottfried Greiffenhagen mischt sich Umgangssprache von heute. Antigone und Ismene sind auch unsere Schwestern: Ismene wirkt bei der zierlichen Lilly Gropper wie ein kleines Mädchen, furchtsam, anpassungswillig weniger aus Angst als vielmehr aus anerzogener obedience; Johanna Marx gibt die Antigone als eigenwillige, selbstbewusste und rebellische junge Frau mit ausgeprägtem politischem Bewusstsein. Prinzipientreu, unbeugsam. Mit moralischen Grundsätzen, im Glauben verwurzelt.

Na und? Das ist doch Kreon auch: prinzipientreu, unbeugsam, mit politischem Bewusstsein und moralischen Grundsätzen. Soweit erkennbar - wer guckt schon hinter heutige Politiker-Fassaden? - will Kreon durchaus ein bisschen mehr Demokratie wagen. Wie bitte? Nur solange seine Macht nicht gefährdet wird? – Jaja, geschenkt: wer verliert schon gerne Macht! Zur Machterhaltung geht halt der eine über mehr und der andere über weniger Leichen. Aber Kreons Moralgerüst und Antriebsfeder ist Staatsraison. Stefan Ottenis Münsteraner Inszenierung lehnt sich an die Antigone-Interpretation von Hegel an: Der definiert das Drama als einen klassischen conflict of interest: Da prallen die weltlichen Interessen des Staates und die gottgegebenen Gesetze von Solidarität innerhalb der Familie aufeinander. Zugespitzter bei Otteni: die Interessen des Staates und die Gesetze der Religion. Und da wir im Heute spielen, spricht er von Gott, nicht von den Göttern, wird ein Gesang aus dem Lukas-Evangelium angestimmt, als Kreon seinen Sohn, den Verlobten Antigones, der sich selbst getötet hat, in seinem Grab findet. Und spielt Hubertus Hartmann den blinden Seher Teiresias als salbungsvollen, weitsichtigen Pfarrer. Der aber, als er mit erbaulichen pastoralen Tönen nicht weiter kommt, sich die Kraft und die Herrlichkeit seines Amtes bewusst macht und mit wütenden Reden die weltliche Macht herausfordert.  

Stefan Otteni hat für seine kompakte, nur 75 Minuten währende Inszenierung ein großartiges Ensemble zusammen. Unsere beiden Kampfhähne vom Beginn erleben ihre Wiedergeburt als Wächter (großartig Maximilian Scheidt als ängstlicher, aber pflichtbewusster Überbringer schlechter Nachrichten) bzw. als Haimon (Florian Steffens als wunderbarer jugendlicher Held und Liebender, der seine Antigone aus Mitleid tötet und, bevor er sich selbst entleibt, sie in einer poetischen Szene in einer aus den weißen Planen der Spielflächen-Umgebung entstehenden Blume beisetzt). Mit Scheidt und Steffens wachsen zwei großartige junge Schauspieler-Talente heran. Johanna Marx, die Rebellische und Unbeugsame, zeigt auch ihre weiche Seite, und wir lassen ihren Satz noch lange nachklingen: „Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich geboren.“  Mark Oliver Bögels rhetorisch geschickten, aber nicht auftrumpfenden Allerweltspolitiker sahen wir kürzlich noch im Landtag – oder war es im Münsteraner Rathaus? Eher leise, aber mit großer Überzeugungskraft versucht er uns auf seine Seite zu ziehen. – Sie alle zusammen geben den Chor: nicht gemeinsam skandierend wie in der antiken Arena von Epidaurus, sondern in lockerer Gesprächsrunde diskutierend wie auf dem Marktplatz von Appelhülsen. Aber auch einmal im unaufdringlichen Kanon, als die sechs Schauspieler die Fähigkeiten und Errungenschaften des Menschen bis hin zur Atomspaltung aufzählen – „aber dem Tod entkommt er nicht…“ – Das evoziert nicht nur eine suggestive Atmosphäre, sondern auch tiefes Nachdenken im Publikum.

In der intimen Situation in der engen Arena, mitten zwischen den Schauspielern, entfaltet die Aufführung große Wirkung. Der Zuschauer versteht die Aufforderung, Widerstand zu leisten, falls erforderlich. Und das Erfreuliche ist: Die Aufführung überlässt es dem Zuschauer, in welcher Weise er dies tut. Standhaft bleiben, unbeugsam – das ist das Thema. Nicht aber Radikalisierung um jeden Preis, wie dies viele andere dezidiert politische Theateraufführungen nahelegen. – Nach vielen verschlafenen Jahren unter dem früheren Schauspieldirektor resp. Oberspielleiter müssten Aufführungen wie diese endlich auch das studentische Publikum in die Städtischen Bühnen zurück zu locken in der Lage sein.