Tschick im Oberhausen, Theater

Beyoncé auf dem Rhein-Herne-Kanal

Im Stadion von Rot-Weiß Oberhausen erklingt die Erkennungsmelodie der Champions League. Die Spieler umarmen sich; auf der Tribüne leuchten glückliche Gesichter. - I have a dream …

Manchmal werden Träume wahr. Der Viertligist RW Oberhausen ist ebenso wie die Kanuabteilung des TC Sterkrade Kooperationspartner beim jüngsten Projekt des Theaters Oberhausen. Karsten Dahlem, der hier mit Frühlings Erwachen in der vergangenen Spielzeit eine der besten Jugendtheater-Inszenierungen der letzten Jahre in Deutschland gestemmt und auch am Schauspiel Essen mit einer Bühnenfassung von Janne Tellers Jugendroman Nichts überzeugt hatte, inszeniert Tschick. Wolfgang Herrndorfs Buch ist ein Roman wie ein Roadmovie, eines der unterhaltsamsten Stücke Literatur, die in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts erschienen sind. Erwachsene und Jugendliche sind gleichermaßen fasziniert von einer anarchischen Geschichte, in der in einer zumindest uns Gruftis ungeheuer frisch und realistisch erscheinenden Jugendsprache glaubhaft, berührend und witzig von den Träumen und den pubertären Sorgen zweier 14jähriger Jungs erzählt wird:

Maik Klingenberg ist aus scheinbar gutem Hause und der Langeweiler in der Klasse, Andrej Tschichatschow ein aus höchst prekären Verhältnissen stammender russischer Migrantensohn, hochbegabt und tief gefallen. Beide sind die Außenseiter in der Klasse und als einzige nicht zu Tatjanas Geburtstag eingeladen – und für Tatjana schwärmt jeder, der einigermaßen Eier in der Hose hat. Tschick klaut einen Lada, und aus dem kleinen Ausflug zu Tatjanas Fête, auf der Maik sein in monatelanger Feinarbeit erarbeitetes Portrait von deren Idol Beyoncé überreichen will, wird ein zweiwöchiger Abenteuer-Trip durch den ungezähmten Osten Deutschlands.

Das Theater Oberhausen hat den Roman als Außenprojekt inszeniert und lässt ihn rund um das Niederrheinstadion spielen. War Frühlings Erwachen für eine Zielgruppe „ab 15 Jahren“ deklariert, spielt man „Tschick“ für Jugendliche „ab 12“. Das hat Auswirkungen auf die Spielweise: Sie ist kindlicher, weniger authentisch als bei der zu Tränen rührenden, vollkommen realistisch wirkenden Wedekind-Adaption; die Handlung wird stärker als Theater ausgestellt und das Publikum dadurch mehr auf Distanz gehalten. Ohnehin fragt man sich bei den Eins A. brillanten Jugendprojekten des Theaters Oberhausen, warum die Erwachsenen im Gegensatz zu den Kindern stets als Knallchargen denunziert werden: Auch diesmal wirken Martin Müller-Reisinger als Maiks im Immobiliengeschäft misserfolgreicher Vater im feuerwehrroten Anzug sowie Angela Falkenhan als dessen junge Geliebte mit der originalgetreuen Schräpe der Ingrid Steeger aus der Klimbim-Familie eher als peinliche Karikaturen; besser gelingt die Gratwanderung zwischen Realismus und kindgerechter Überzeichnung Anja Schweitzer als Maiks alkoholkranker Mutter.

Die jugendlichen Figuren laden dagegen eher zur Identifikation ein. Als Isa ist Angela Falkenhan genau die schrille Müllberg-Climberin, die wir nach der Lektüre des Romans erwartet haben – die versuchte erotische Annäherung an den schüchternen, gehemmten Maik spielen Falkenhan und Eike Weinreich nicht unter dem Schutzmantel vorgeblicher Aggressivität wie im Roman, sondern mit einer Zärtlichkeit und Behutsamkeit, dass man glaubt, eine Schutzglocke gegen jeglichen Lärm und jegliches Unheil senke sich auf das Niederrheinstadion herab.

Eike Weinreich, der einen so grandiosen Moritz in Frühlings Erwachen gespielt hatte, wirkt zu Beginn ein wenig zu alt und zu reif für die Rolle als braver Mittelschichts-Bubi, der so gern aus dem fest um ihn gesponnenen Kokon seiner guten Erziehung ausbrechen möchte. Da gelingt die Identifikation mit der Rolle noch nicht; das Alter des Schauspielers und das Altkluge des Vierzehnjährigen scheinen nicht zueinander zu passen. Im Verlauf des 100minütigen Abends spielt Weinreich sich jedoch mehr und mehr frei. - Eine wahre Show aber ist Sergej Lubic als Tschick: ein Clown, ein Abenteurer, ein sympathischer Chaot und doch der Schrecken des Bürgertums, ein irrlichternder, kaum zu bremsender Ideengenerator, gibt er den Russen mit perfektem Akzent und dem Selbstbewusstsein dessen, der nichts zu verlieren hat. Er ist ein toller Typ, dem man stundenlang zuschauen kann – und der durch ungewöhnliche Feinfühligkeit und einen weichen Kern unter harter Schale überrascht. So zum Beispiel in der wunderbaren Szene, in deren Folge die Champions League Melodie im Stadion Oberhausen erklingt – und eine große Freundschaft gefeiert wird…

Außenprojekte bringen es oft mit sich, dass die feinen Nuancen des Schauspiels auf der Strecke bleiben. Durchaus nicht unerfolgreich steuert das Karsten Dahlem dem entgegen, indem er Szenen aus dem roten Lada, der ums und durchs Stadion kutschiert, elektronisch auf die den Zuschauern ausgehändigten Kopfhörer überträgt – zusammengemischt mit der geschickt ausgewählten Musik von Gregor Prami. Aber die großartigen emotionalen Höhepunkte der Aufführung liegen in den Bildern, die Dahlem und sein Team gefunden haben. Wenn Tatjana Cosic (erneut Angela Falkenhan), der Schwarm aller Vierzehnjährigen aus Maiks und Tschicks Schulklasse, stolz und aufrecht in einem Boot des TC Sterkrade über den Rhein-Herne-Kanal einschwebt, im Kostüm von Beyoncé und mit einer olympischen Fackel. Maik erobert ihren Skalp, und da wird Tatjanas Stimme piepsig und unsouverän … - Wenn Tschick sein Coming Out hatte – und voller Scham ganz weit auf die andere Seite des Stadions flüchtet, wo er, dem Publikum und seinem Freund den Rücken zudrehend, im Boden versinken möchte. Wenn Isa und Maik, als der sich zum ersten Sex noch nicht reif fühlt, die Fußbälle auspacken und ihre Freundschaft beim Kicken fortsetzen – auf dem Rasen, auf dem Lothar Kobluhn 1971 Torschützenkönig der Bundesliga wurde – dann ist das eine Szene, die an ganz große Vorbilder erinnert, an Peter Zadeks experimentellen Fernsehfilm „Der Pott“. Auch aus dem Jahre 1971 übrigens.

Der Schluss dieses außergewöhnlichen Road Movies beinhaltet ein Stück Sozialkritik – auch das wie im Roman. Und wie im Roman wirkt es in keiner Weise aufgesetzt. Die Qualität von Frühlings Erwachen wird nicht erreicht. Aber ein Erfolg wird dieses Projekt ebenfalls werden