Klischeefrei mit Puste-Wind
Hans Falladas Texte erleben seit einigen Jahren eine erstaunliche Renaissance auf den Bühnen unserer Theater. Vor allem Theaterfassungen seines Romans einer kleinbürgerlichen Liebe Kleiner Mann – was nun? werden landauf, landab gespielt. Der aussichtslose Kampf des kleinen Angestellten Johannes Pinneberg und seiner Angetrauten Emma Mörschel, genannt Lämmchen, gegen Verarmung und Arbeitslosigkeit scheint in den Zeiten einer immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich sowie (zumindest fragwürdigen Definitionen von „relativer Armut“ zufolge) steigender Bevölkerungsarmut wieder hochaktuell. Jedenfalls wenn man vernachlässigt, dass Falladas Roman unmittelbar nach der verheerenden Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde, während unser Land soeben mit Sieben-Meilen-Stiefeln der Vollbeschäftigung entgegengeht…
Wenig aktuell erscheint die Erzählweise der Fallada-Geschichte. Fallada entwirft zwar ein facettenreiches Zeitportrait mit implizierter Gesellschaftskritik, doch Lämmchens und Pinnebergs Flucht vor allen Widrigkeiten ins rührselige große Familienglück mit dem kleinen „Murkel“ wirkt heute zumindest befremdlich. So anrührend auch Annette Paulmann in der viereinhalbstündigen, zum Berliner Theatertreffen 2010 eingeladenen Inszenierung von Luk Perceval an den Münchner Kammerspielen oder Maja Beckmann in David Böschs etwas eindimensional geratener Inszenierung am Schauspielhaus Bochum (siehe hier) das bedingungslos liebende, unerschütterlich optimistische und grenzenlos naive Lämmchen interpretierten – beide Aufführungen litten doch unter einer argen Biederkeit, die zuvörderst auf Falladas Text zurückzuführen ist. Michael Thalheimer steuert dem in seiner Frankfurter Inszenierung entgegen. Er verliere dabei Fallada, monieren einige Kritiker.
Tut er aber gar nicht: Mit hoher Präzision arbeitet der Regisseur die wesentlichen Themenblöcke des Romans heraus und stellt sie gestochen scharf ins Rampenlicht: Inflationsangst, Arbeitslosigkeit, Raubtierkapitalismus, aber auch die Liebe und die ganz normalen Ehethemen. Thalheimer lässt das Stück auf einer riesigen, leeren Bühne spielen. Olaf Altmann hat einen überdimensionalen, nahezu die gesamte Bühne einfassenden Rahmen gebaut – und zwei Spielebenen geschaffen: Im Vordergrund spielen die Figuren im Licht, oft nur im Spotlight; im etwas erhöhten Hintergrund stehen alle übrigen Schauspieler im Dunkeln oder im Halbschatten. Das Aufgebot an Humanressourcen ist opulent: Elf höchst renommierte Darsteller bietet der Regisseur auf, von denen nur zwei eine signifikante Textmenge zu schultern haben. Henrike Johanna Jörissen als Lämmchen löst sich als erste von denen, die im Dunkeln munkeln, steht lange stumm an der Rampe, und von hinten flüstert es beschwörend: „Sei gelind zu meinem Kind / Wehe-Wind, Puste-Wind…“. Es ist das Lied, das Pinneberg beim Gynäkologen einfällt, kurz bevor er von seiner werdenden Vaterschaft erfährt. Bei Thalheimer wirkt es wie ein düsterer Zauberspruch. Lämmchen aber strahlt, als sie von ihrer Schwangerschaft erfährt - etwas schief zunächst, etwas verrutscht, doch irgendwann gelingt ihr ein glückseliges Lächeln, in dessen Zustandekommen bereits die gesamte Essenz von Falladas Liebesgeschichte liegt: Eine Katastrophe jagt die nächste, doch Lämmchen lässt sich von den Boxhieben des Schicksals nicht aus der Bahn werfen: Sie ordnet ihre Gesichtszüge, stellt ihren Lebensentwurf auf Reset und startet wieder durch mit ihrem unerschütterlichen Optimismus. Dass so etwas gut geht, glaubt heute kein Mensch mehr. Thalheimer auch nicht.
Wehe-Wind und Puste-Wind haben alle Klischees des Ausgangstextes beiseite geschoben. Henrike Johanna Jörissen zeigt ein facettenreiches, intensives Spiel und fügt der Naivität ihrer Figur eine überraschende Vielschichtigkeit und Entschlossenheit hinzu. Ihr Lämmchen ist eckig, linkisch, unbeholfen und emotional, vermag aber dem Geliebten ihrer Schwiegermutter, dem halbseidenen, aber gutherzigen Filou Jachmann, mit einem Selbstbewusstsein, einer Souveränität und einer Klugheit entgegenzutreten, die ihrem vergeblich sich abrackernden Ehemann nicht gegeben sind. Dieser wird von Nico Holonics als ein so unermüdlich wie vergeblich strampelnder kleiner Angestellter dargestellt, dem man zu keinem Zeitpunkt zutraut, aus seinem Hamsterrad ausbrechen zu können. Und der doch seine Ausbrüche hat: wütende, verzweifelte, aggressive Momente, depressive Phasen, in denen er nahe daran ist, aufzugeben. Holonics und Jörissen zeichnen vielseitigere Charaktere als wir dies in vergangenen Inszenierungen sahen, Menschen, zu denen wir trotz einer recht formalen Spielweise Empathie aufbauen können.
Zu den übrigen Figuren hält die Inszenierung Distanz. Sie sind – meist sehr gelungene – Karikaturen und Stichwortgeber. Und sie übernehmen die chorische Kommentierung der Handlung; sie sind die Stimmen im Kopf von Pinneberg und Lämmchen. Rhythmisch geschickt wird dieser Chor eingesetzt, niemals so holzhammermäßig dominant wie wir es aus Inszenierungen von Volker Lösch kennen. Auch durchzieht die Aufführung ein für Thalheimer ganz ungewöhnlicher Humor. Kantig werden Textstellen aufeinandergesetzt, die in ihrer Konfrontation zum Lachen reizen: Lämmchens Eltern haben ein dumpfbackiges Klassenbewusstsein und eine Eindimensionalität im Denken wie ein Bochumer Opel-Betriebsrat und moppern lautstark über die unsicheren Verdienstaussichten ihres annoncierten Schwiegersohns. „Ich glaube, du hast ihnen gefallen“, sagt Lämmchen. Und hat nicht nur die Lacher auf ihrer Seite, sondern auch ihre eigene bedingungslos positive Weltsicht in einer einzigen kurzen Szene auf den Punkt gebracht.
Schnell folgen die einzelnen Episoden des Romans aufeinander; geschickt galoppiert Thalheimer durch die vielfältigen Szenen, jeglichen Kitsch durch seine formalisierte Inszenierung vermeidend, aber so die Spannung haltend und das Stück näher an unsere heutige Realität ankoppelnd. Näher an der heutigen Realität ist wohl auch der Schluss: Krasser als in bisherigen Vorbildern wird die Verzweiflung, die Härte der Arbeitslosigkeit herausgearbeitet – bis hin zu Selbstmordgedanken. „Da steht mein Mann im Dunklen wie ein verwundetes Tier und traut sich nicht ins Licht. Ich kann nicht mehr trösten. Es ist alles umsonst“, erkennt Lämmchen.
Umsonst waren Thalheimers Bemühungen nicht. Die Inszenierung rehabilitiert einen Stoff, dessen klebrige Gefühligkeit seiner Aktualität im Wege zustehen schien. Sie rehabilitiert ihn nicht, indem sie Fallada verliert, sondern weil sie seine Rührseligkeit zurückdrängt: weil sie Falladas „Neue Sachlichkeit“ mit einem sachlichen Blick betrachtet. Besser sahen wir das Stück seit langem nicht.