Übrigens …

Tod in Venedig/Kindertotenlieder im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Viel Lärm um wenig

Gustav Mahler und Thomas Mann begegneten einander nur ein einziges Mal. Das war 1910 in München, als des Komponisten 8. Sinfonie uraufgeführt wurde. Der Schriftsteller traf auf einen Musiker, dessen markant schmales Gesicht von Krankheit gezeichnet war. Eben erst aus New York zurückgekommen – dort hatte Mahler an der Metropolitan Opera gearbeitet –, belasteten Unbilden und Schicksalsschläge sein krankes Herz. Ein Jahr später starb er. In ihm verkörpere sich „der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit“, schrieb Mann.

In Mahlers Todesjahr entstand zudem die Novelle Der Tod in Venedig, und der Vorname der Hauptfigur, Gustav (!) von Aschenbach, sowie dessen Physiognomie, war als Hommage an den bewunderten Komponisten gedacht. Mehr Parallelen gibt es nicht. Denn Manns Text handelt von einem gut 50jährigen Schriftsteller, der aus seinem strengen Arbeitstrott nach Venedig entflieht, dort den Knaben Tadzio erblickt, dabei in einen Zustand gerät, der zwischen Bewunderung reiner Schönheit und sich steigernder Lüsternheit pendelt. Das hat mit Gustav Mahler nichts, mit Thomas Mann aber einiges zu tun.

Wenn nun aber Thomas Ostermeier und Maja Zade Der Tod in Venedig/Kindertotenlieder auf die Berliner Schaubühne bringen, also Verbindungen knüpfen, die es so nicht gibt, bedarf es eines Kunstgriffes. Der Schlüssel liegt in Luchino Viscontis Film Der Tod in Venedig. Denn hier ist Aschenbach tatsächlich Komponist, hier erklingt Mahlers Musik nicht aus reinem Zufall. So also wird aus der originalen Novelle und seiner cineastischen Adaption ein Kunstcollagenstück für die Bühne geformt. Bestehend aus Szenen, Musikfetzen, Textauszügen und Stille, daneben aber auch aus höllisch lautem, elektronischem Poltern, Klopfen, Heulen. Insgesamt: viel Lärm um wenig.

Das Wenige, das nun bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zu sehen ist, besteht vor allem aus der Fokussierung mittels Handkamera auf das runde, blasse, ein wenig zuckende, irritiert und nervös umherblickende Gesicht des Josef Bierbichler. Hinter dessen Fassade sich offenbar jene ästhetischen wie lüsternen Gedanken verknäulen, die Kay Bartholomäus Schulze aus Thomas Manns Novelle zitiert. Dazu lässt Timo Kreuser das präparierte Klavier sprechen oder jene elektronischen Klangmassen, die er eigens für diese Produktion komponiert hat.

Bierbichler gibt den Aschenbach stumm. Außer er beginnt, wohl von seinen Gedanken und Gefühlen überwältigt, Mahlersche Kindertotenlieder oder eines der Lieder eines fahrenden Gesellen zu singen. Leise stets, mit brüchiger Kopfstimme, vor sich hin raunend, dass uns der Arme ziemlich Leid tut. Weil es nach Altmännererotik klingt. Die selbst dem homoerotisch veranlagten Schriftsteller Mann zuwider war. Wie Bierbichler also dasitzt und stiert, in einem von Jan Pappelbaum gebauten aristokratisch anmutenden Hotelrestaurant, allein am Katzentisch, in Sichtweite von Tadzio nebst Schwestern und Gouvernante, hat er irgendwie unser Mitgefühl, mehr aber nicht.

Selbst dann noch, als der Raum auseinanderbricht, vom Himmel wie angekokelte Blätter fallen und drei langmähnige Nymphen heftig zuckend zu überlauter, dröhnender Maschinenmusik orgiastisch tanzen. Weil Bierbichler immer noch so dasitzt, während eine Art Learsche Sturmwucht um ihn tobt. Während hinten im Nebel der schöne Jüngling langsam zum Meer hin verschwindet und vom Tod die Rede ist. Dann rafft sich der Stumme, Dasitzende zum letzten Lied auf: „Die zwei blauen Augen von meinem Schatz“.

Thomas Ostermeier zeigt ein Stück zwischen Trash und Kitsch. Es will nicht zünden. Wenigstens will es dann doch schnell enden.